Aus der KapitalmarktforschungZusammenhang zwischen Demographie, Wachstum und Kapitalrenditen

Die Dynamik des demografischen Wandels und des realen Zinsniveaus

Die demografische Entwicklung wird wohl auch in den nächsten 20 Jahren zu negativen Realzinssätzen führen, die Kapitalrenditen werden im Schnitt um etwa 1% zurückgehen. Die Politik sollte auf Wachstum und Arbeitsproduktivität setzen. Der Übergang zu einer noch stärker kapitalgedeckten Rente ist unabdingbar.

Die Dynamik des demografischen Wandels und des realen Zinsniveaus

Demografischer Wandel sorgt für Negativzinsen

Kapitalrenditen dürften in den nächsten 20 Jahren im Schnitt um etwa 1 Prozent zurückgehen – Relative Nachfrage nach risikoarmen Anlageformen steigt

Die demografische Entwicklung wird wohl auch in den nächsten 20 Jahren zu negativen Realzinssätzen führen, die Kapitalrenditen werden im Schnitt um etwa 1% zurückgehen. Die Politik sollte auf Wachstum und Arbeitsproduktivität setzen. Der Übergang zu einer noch stärker kapitalgedeckten Rente ist unabdingbar.

Im Jahr 2003 hielt ich als junger Doktorand der Volkswirtschaftslehre einen Vortrag zum Zusammenhang zwischen Demografie, Wachstum und Kapitalrenditen. Meine Aussage, dass sich aufgrund der demografischen Entwicklung in etwa ab dem Jahr 2020 negative Realzinssätze – reale Umlaufrenditen auf 10-jährige Staatsanleihen – einstellen würden, wurde damals eher belächelt. Ich lag leicht daneben – reale Zinssätze wurden bereits nach der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 negativ und nicht erst um das Jahr 2020. Die von mir entwickelten makroökonomischen Modelle, auf denen ich meine Berechnungen fußte, bilden jedoch eine lange Frist ab; eine Krise hatte ich weder kommen sehen, noch – selbst wenn – hätte ich diese als „kurzfristiges“ Phänomen  abgebildet. Seinerzeit führte ich ferner aus, dass der Rückgang der Zinssätze bei einer niedrigeren Wachstumsrate des technologischen Fortschritts von 0,5% pro Jahr – statt der im Basisszenario angenommen Wachstumsrate von 1% – noch stärker ausfallen würde.

Negativzins bleibt

Ende des Jahres 2019 blickte ich anlässlich eines Zeitungsartikels, den zu schreiben ich gebeten worden war, auf diese Arbeiten zurück. Ich betrachtete die von der EU-Versicherungsaufsicht EIOPA herausgegebene Zeitreihe des realen Zinsniveaus, das als Durchschnitt europäischer Länder berechnet wird, und stellte fest, dass meine damaligen quantitativen Abschätzungen den Verlauf des Realzinsniveaus seit 1990 recht gut abbildeten – also für einen Zeitraum von fast 30 Jahren den in den Daten beobachteten kontinuierlichen Abwärtstrend ziemlich genau berechneten. Ebenso bemerkte ich mit Blick auf die aktualisierten Daten der Wachstumsraten des Technologieniveaus, dass das einst von mir als „pessimistisch“ angenommene Szenario niedriger Wachstumsraten der Realität nahekam. Lege ich meinen damaligen Berechnungen diese niedrigere Wachstumsannahme zugrunde, komme ich zu dem Schluss, dass die demografische Entwicklung auch über die nächsten 20 Jahre zu negativen Realzinssätzen führen würde, wobei die Formulierung „würde“ zum Ausdruck bringt, dass es sich um quantitative Abschätzungen und nicht um Prognosen oder Projektionen im engeren Sinne handelt.

Säkulare Stagnation im Fokus

Was sind die Ursachen dieser Entwicklung? Und wie belastbar ist diese Berechnung, wo wir doch derzeit eine hohe Inflation und damit hohe Nominalzinssätze beobachten? Bevor ich auf diese Fragen eingehe, sei ein Blick auf die wirtschaftswissenschaftliche Literatur geworfen. Nachdem im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise Zentralbanken eine ultralockere Geldpolitik eingeführt hatten, erfuhren die Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Demografie, Wachstum und realen Zinssätzen neues Interesse. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung gesellte sich zu Demografie und Technologie ein weiterer fundamentaler Faktor hinzu, der womöglich zusätzlich für die niedrigen Zinsniveaus ursächlich ist: das gestiegene Risiko bzw. eine hohe Unsicherheit. Sie führte dazu, dass Investoren risikofreie Anlagen suchten, deren Angebot aufgrund der folgenden Staatsschuldenkrise jedoch zunehmend abnahm. In einer Rede des Jahres 2014 belegte schließlich Larry Summers diese Situation mit dem Ausdruck der säkularen Stagnation, ein Begriff, der durch den Ökonomen Alvin Hansen in den 1930er Jahren geprägt worden war und einen Zustand bezeichnet, in dem sich die Weltwirtschaft in einer langfristigen Phase niedrigen Wachstums und niedriger Realzinssätze befindet. Auch heute steht die Diskussion um die Auswirkungen der weltweit beobachteten demografischen Entwicklung auf Wachstum und Innovationsfähigkeit von Volkswirtschaften wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: die Ausgabe des „Economist“ vom 3. Juni dieses Jahres mit dem Titel „The Baby-Bust Economy“ widmete insgesamt drei Artikel diesem Thema.

Wie hoch ist der natürliche Zins?

Zentralbanken sind an den Theorien, die eine säkulare Stagnation postulieren, und den dazugehörigen quantitativen Prognosemodellen insbesondere deshalb interessiert, weil für eine Abschätzung, ob und wie stark eine geldpolitische Maßnahme expansiv oder regressiv wirkt, die Kenntnis des natürlichen Zinses vonnöten ist. Der natürliche Zins bezeichnet einen auf dem Markt nicht beobachtbaren Zinssatz, bei dem sich der Gütermarkt im Gleichgewicht befindet und das Preisniveau stabil ist. Eine geldpolitische Maßnahme wirkt dann expansiv, wenn die von der Zentralbank gesetzten Leitzinsen unterhalb des natürlichen Zinses liegen. Für eine Schätzung des natürlichen Zinsniveaus greift man auf beobachtbare Größen wie etwa die Marktzinsen und die Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft zurück. Damit ergibt sich aber ein Zirkelschluss: Folgt die EZB in ihrer Zinspolitik fundamentalen Faktoren, die das Marktzinsniveau (den „natürlichen Zins“) beeinflussen, oder verzerrt sie durch ihre massiven Interventionen am Anleihenmarkt das Marktzinsniveau künstlich? Diese Frage lässt sich nicht beantworten, wenn zur Abschätzung des Zinsniveaus die Marktzinsen selbst verwendet werden.

Die alternative Methode sind die von mir und zahlreichen anderen Autoren entwickelten und zur quantitativen Abschätzung von Zinsniveaus angewandten Prognosemodelle. Um die Zusammenhänge zwischen Demografie und Kapitalrenditen vereinfacht darzustellen, stellen wir uns einen Produktionsprozess unter dem Einsatz von Kapital und Arbeit vor. Verschwinden von jetzt auf gleich die Arbeiter, so kann das eingesetzte Kapital keine Rendite abwerfen. Ähnliches gilt für im Produktionsprozess eingesetzte Technologien. Werden diese über die Zeit nicht mehr besser, sinkt auch die Rendite des eingesetzten Kapitals.

Natürlich ist dieses Bild extrem vereinfacht und natürlich gibt es in einer alternden Gesellschaft zahlreiche Faktoren, die der gezeichneten Entwicklung entgegenwirken. Ein sinkendes Arbeitsangebot wird durch den Einsatz von Maschinen, Robotern und künstlicher Intelligenz substituiert. Dies hat allerdings Grenzen. Die Berechnungen, die wir mit sehr komplexen mathematischen Modellen ausführen, berücksichtigen solche Zusammenhänge. Unter üblichen Abschätzungen der Stärke der Substitution ergibt sich, dass über die nächsten 20 Jahre, wenn der demografische Wandel seine volle Dynamik entfaltet – der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren an der Erwerbsbevölkerung im Alter von 20 bis 64 wird von 35% auf über 50% steigen –, Kapitalrenditen im Schnitt um etwa 1% zurückgehen werden. Dabei bewegen sich Renditen auf verschiedene Anlageformen – Aktien, Bonds, Staats- oder Geldmarktanleihen – aufgrund von No-Arbitrage im Wesentlichen parallel. Papiere mit geringerem Risiko und somit auch der sogenannte natürliche Zins werden einen leicht stärkeren Rückgang verzeichnen, da in einer alternden Bevölkerung die relative Nachfrage nach risikoarmen Anlageformen steigen wird.

Diese Aussage bezieht sich auf eine langfristige Abschätzung. Als Basis liegt hier nicht ein derzeit durch die hohe Inflation nach unten verzerrter realer Zins zugrunde, sondern ein im Modell berechneter langfristiger natürlicher Zins von real derzeit etwa 0%. Was bedeutet dies für langfristige Nominalzinsen? Zunächst sei hier mit einem weit verbreiteten Mythos aufgeräumt. Langfristig sind reale Zinsen durch reale ökonomische Faktoren wie Demografie, Wachstum und Unsicherheit bedingt. Geldpolitische Maßnahmen sind diesbezüglich neutral. Folglich ergibt sich das langfristige Nominalzinsniveau als Summe aus Realzinsniveau und Inflation. Wo wird Letztere liegen?

Fürsprecher der EZB

Zur Einschätzung der Inflationsentwicklung müssen wir neben Sekundäreffekten, etwa ausgelöst durch höhere Nominallöhne, die eigentliche Ursache in den Blick nehmen. Dies war zunächst ein massiver Angebotsschock nach der Coronakrise durch ein Zusammenbrechen der Lieferketten. Während eine Pandemie als solche für die Weltwirtschaft kein Schwarzer Schwan ist, war diese Konsequenz nicht im Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger. Man konnte aber in der Inflationsentwicklung in Deutschland ein Abflachen in den Monaten November und Dezember 2021 und sogar einen Rückgang der Inflationsrate (nicht der Preisniveaus!) in den Monaten Februar und März 2022 ablesen. Auf dieser Basis habe ich in vielen Diskussionen die oft kritisierte Politik der EZB der abwartenden Haltung als richtig verteidigt. Diese Politik wurde auch zum damaligen Zeitpunkt von zahlreichen Experten stark kritisiert – nach meiner Wahrnehmung häufig in einer Art und Weise, die die Autorität der EZB grundsätzlich infrage stellt, was meines Erachtens weit schädlicher als eine womöglich falsche geldpolitische Einschätzung selbst ist.

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine entfaltete die Inflationsentwicklung dann eine Dynamik, die ein Gegensteuern erforderlich machte. Allerdings halte ich auch hier das vorsichtige Navigieren für richtig, da anders als in den USA die treibenden Faktoren nach wie vor Angebotsengpässe waren und nicht so sehr eine durch Spending Checks ausgelöste Geldschwemme. Man kann sicherlich darüber streiten, ob die Reaktion der EZB mit den ersten Zinsschritten im Juli 2022 und dem Beschluss des Quantitative Tightening zu spät erfolgte. Wie dem auch sei: Ein vorsichtiges Navigieren ist in Anbetracht des Trade-offs, ein wirtschaftlich noch teureres Auseinanderbrechen der Eurozone und eine damit einhergehende Währungskrise zu vermeiden, unabdingbar. Und die letzten Monate stimmen schließlich optimistisch. Während der Rückgang der Inflation im März 2023 wegen des Basiseffekts – die Inflation wird relativ zur Entwicklung des jeweiligen Monats im Vorjahr gemessen – noch mit Vorsicht zu beurteilen war, setzte er sich jüngst mit einer durchschnittlichen Teuerungsrate in den Monaten April und Mai von 6,1% fort, auch wenn die Rate im Juni voraussichtlich mit 6,4% wieder leicht höher liegen wird. Letztere sollte in Anbetracht des allgemeinen Trends nicht überbewertet werden, da dieser leichte Anstieg der Teuerung wiederum auf Basiseffekte zurückzuführen ist – aufgrund des zeitlich begrenzten Tankrabatts und des 9-Euro-Tickets.

Etwa 3 Prozent sind realistisch

Welche Entwicklung ist für 2024 zu erwarten? Ich halte die von der Bundesregierung im April 2023 veröffentlichte Schätzung einer Inflation von 2,7% für das Gesamtjahr 2024 zwar für etwas zu optimistisch, gehe aber davon aus, dass die Inflationsrate etwa 3% erreichen wird. Es ist plausibel, dass die Inflation in der Eurozone auch langfristig aufgrund gestiegener Unsicherheit insbesondere bei der Energieversorgung – es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen Niveau und Variation der Inflation – über dem (einstmaligen?) Ziel von 2% liegen wird. Auf der Grundlage der oben erwähnten Berechnungen, die einen negativen Realzins von etwa –1% postulieren, bedeutet dies also – in der Annahme, dass auch die Inflationserwartungen bei etwa 3% liegen werden – ein Nominalzinsniveau von etwa 2%.

Langer Atem nötig

Jedoch zurück zur hier im Fokus stehenden Frage der Realzinsen und realen Wachstumsraten: Oben schrieb ich von Berechnungen, die wir „unter üblichen Abschätzungen der Stärke der Substitution“ zwischen Kapital und Arbeit durchführen. Es mag durchaus sein, dass künstliche Intelligenz ein „Game Changer“ bezüglich der Produktivitätsentwicklung von Volkswirtschaften im Zuge des demografischen Wandels sein wird, wie auch im „Economist“ (Ausgabe v. 10. Juni 2023) diskutiert wird und was die derzeitige Entwicklung auf den Aktienmärkten widerzuspiegeln scheint. Ergibt sich durch einen breiten Einsatz von Artificial Intelligence in Produktionsprozessen eine höhere Wachstumsrate des Technologieniveaus, so werden Kapitalrenditen und der natürliche Zins wieder früher steigen – wegen der Adaptionsprozesse schätzungsweise allerdings kaum merklich in den nächsten zehn Jahren.

Für die Politik lässt sich aus diesen Betrachtungen schließen, dass sie auf Wachstum und auf Arbeitsproduktivität setzen sollte. Es ist offensichtlich, dass ein Festhalten an demografisch anfälligen Produkten in der Altersvorsorge, der staatlichen Rentenversicherung selbst oder Garantieprodukten, aufgrund der negativen realen Renditen letztlich zu Enteignung führt. Daraus folgt, dass der Übergang zu einer noch stärker kapitalgedeckten Rente unabdinglich ist. Der Vollständigkeit halber sei auch die vielfach angemahnte Notwendigkeit einer Indexierung des Regelrenteneintrittsalters an die Lebenserwartung wiederholt, aber auch die Notwendigkeit einer Sicherheit in der Energiepolitik, anstatt sich auf diesem Feld noch einmal selbst zu schaden.

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