Priips

Auf der Suche nach der Kristallkugel

Börsen verhalten sich selten so, wie man es von ihnen erwartet. Die klassische Normalverteilung, beschrieben durch die bekannte Glockenkurve des Mathematikers Carl Friedrich Gauß, kann nicht abbilden, wie häufig und heftig Kursverluste an der...

Auf der Suche nach der Kristallkugel

Von Jan Schrader, Frankfurt

Börsen verhalten sich selten so, wie man es von ihnen erwartet. Die klassische Normalverteilung, beschrieben durch die bekannte Glockenkurve des Mathematikers Carl Friedrich Gauß, kann nicht abbilden, wie häufig und heftig Kursverluste an der Börsen auftauchen. Das macht Pro­gnosen schwer und die Kapitalmarktforschung herausfordernd. Infolge der EU-Verordnung Priips, die ein Basisinformationsblatt für verschiedene Finanzprodukte mit sich bringt, müssen sich auch Finanzregulierer mit der verflixten Natur der Kurse auseinandersetzen. Denn die Anleger sollen ein realistisches optimistisches, mittleres und pessimistisches Performance-Szenario erhalten und obendrein ein Stressszenario. Doch was ist realistisch?

Im Zuge der laufenden Überarbeitung der Priips-Verordnung erwägen die Regulatoren verschiedene Pro­gnosemethoden. Bisher sieht die Berechnung vor, dass aus der Kursentwicklung der vergangenen fünf Jahre neue mögliche Verläufe kon­struiert werden und aus der so erzeugten Verteilung die Szenarien abgeleitet werden. Dieses Modell aber führt zu schwankenden Schätzungen und hat die Kursentwicklung oft genug über- oder unterschätzt, wie die EU-Regulierungsbehörden ESMA, EBA und EIOPA in ihrem Bericht zum Entwurf der regulatorischen technischen Standards festhalten, also zu den vorgeschlagenen Detailregeln der künftigen Regulierung. Abhängig davon, wie die Kurse über die vergangenen fünf Jahre liefen, variieren die Szenarien. Besonders problematisch: Nach einem Bullenmarkt kann selbst das pessimistische Szenario eine positive Rendite zeigen, was als Garantie missverstanden werden kann, wie der Bericht warnt.

Daraufhin entwickelten die Behörden ein alternatives Verfahren, das sie im Oktober 2019 zur Konsultation stellten. Zunächst wird der Erwartungswert der Rendite ermittelt, indem ein Referenzsatz – abgeleitet aus den Konditionen für Staatsanleihen – mit einer Risikoprämie kombiniert wird. Anschließend ermittelt das Modell eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, die einer schiefen Glockenkurve mit breiten Ausläufern ähnelt und die Eigenschaften von Börsenkursen reflektieren soll. Aus diesen Werkzeugen werden die Performance-Szenarien konstruiert.

Rückblickend hätte dieses Modell seltener dazu geführt, dass die tatsächliche Wertentwicklung eines Finanzproduktes oberhalb des positiven oder unterhalb des negativen Szenarios gelegen hätte, wie die Behörden ausführen. Auch nach dem Kursrutsch in der Coronakrise im März wäre der Kursrückgang nicht allzu weit vom pessimistischen Szenario entfernt gewesen, wie die Regulatoren im aktuellen Bericht für eine Alternative vorrechnen.

Doch ein Konsens ist in weiter Ferne: Vertreter der Fondsbranche kritisierten das Modell, wie im Bericht zu lesen ist. Für die Konstruktion seien weitere Daten vonnöten, die Fondsgesellschaften von den Anbietern von Marktdaten kaufen müssten – zu tendenziell ungünstigen Preisen. Auch werten die Regulatoren die Ergebnisse für Fonds als „nicht überzeugend“. In ihrem Bericht diskutieren sie darüber hinaus weitere Rechenmethoden, die etwa auf einheitliche Wachstumsannahmen für bestimme Anlageklassen, auf beispielhafte („illustrative“) Verläufe oder auf einer längeren Kurshistorie basieren. Die Debatte ist unübersichtlich geworden.

Die Idee, statt auf Performance-Szenarien gleich auf die bisherige Entwicklung zu verweisen, ist ebenfalls tückisch, denn auch ein zurückliegender Kursverlauf kann untypisch sein. Kapitalmärkte zeichnen sich eben dadurch aus, dass Risiken schwer bezifferbar sind, auch wenn auf sehr lange Sicht die Renditeaussichten solide erscheinen. In einem Basisinformationsblatt lässt sich das Wesen der Märkte nur schwer fassen. Vielleicht findet die Suche nach der Priips-Kristallkugel nie ein Ende.