IM BLICKFELD

Börse der Begierde

Von Grit Beecken, Frankfurt Börsen-Zeitung, 4.6.2013 Inmitten der Proteste gegen den Regierungsstil des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan verhandeln das Finanzministerium des Landes, Investmentbanker und Börsenbetreiber still und...

Börse der Begierde

Von Grit Beecken, FrankfurtInmitten der Proteste gegen den Regierungsstil des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan verhandeln das Finanzministerium des Landes, Investmentbanker und Börsenbetreiber still und leise weiter über eine Teilprivatisierung der Börse in Istanbul. Denn der Handelsplatz ist ein begehrtes Gut im Kampf der europäischen Börsenbetreiber um Marktanteile. Unter anderem buhlen derzeit die Deutsche Börse und die London Stock Exchange (LSE) um einen Anteil.Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will einen Teil ihrer 49-prozentigen Beteiligung an der Borsa Istanbul verkaufen. Diese Privatisierungspolitik ist einer der Gründe für die schweren Ausschreitungen vom vergangenen Wochenende. Erdogan-Gegner kritisieren das “neoliberale” Vorgehen der Regierung. Viele Ökonomen hingegen bescheinigen dem Premier, ein Gutteil des wirtschaftlichen Erfolgs des Landes sei dem Verkauf von Staatsbeteiligungen geschuldet.So konnte nicht einmal die Finanzkrise das Wirtschaftswachstum stoppen. 2011 legte das Bruttoinlandsprodukt um mehr als 8 % zu, 2012 waren es 2,2 %. Für das laufende und das kommende Jahr rechnet die Weltbank jeweils mit mehr als 4 % Wachstum. Gleichzeitig wächst bei der türkischen Gesellschaft das Interesse an Finanzprodukten, es gibt hohen Nachholbedarf bei Bankdienstleistungen. Noch sind die Handelsumsätze an der Börse in Istanbul vergleichsweise gering. Doch die Regierung Erdogan will die Finanzmärkte des Landes stärken. Dazu sollen auch die Pensionsfonds beitragen, die angesichts des Niedrigzinsumfelds stärker in Aktien investieren müssen. Dass der Aktienmarkt im vergangenen Jahr um gut 44 % zulegte, könnte nur ein Vorgeschmack auf die Wachstumsraten der Zukunft gewesen sein. Tor in den OstenGleichzeitig erwarten die Interessenten, dass ihnen eine Beteiligung an der Borsa Istanbul das Tor zu den Nachbarstaaten der Türkei öffnet. Dort gibt es etliche kleine Handelsplätze, deren Potenzial eher gering ist. Die türkischen Börsenbetreiber setzen bereits über Kooperationen und Beteiligungen auf diese Märkte (siehe Grafik). So wurde am vergangenen Freitag eine Kooperation mit der Börse in Tirana, Albanien, bekannt gegeben. Das Konzept überzeugt: “Die Börse kann grundsätzlich als Tor in den nahen und mittleren Osten dienen”, sagt DWS-Türkeifondsmanager Sebastian Kahlfeld.Daran wollen LSE-Chef Xavier Rolet und der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse, Reto Francioni, teilhaben. In Frankfurter Finanzkreisen wird berichtet, Francioni sei Mitte Mai zu Gesprächen in Istanbul gewesen. In dieser Woche soll die begleitende Londoner Investmentbank Sardis Capital den Bietern verraten, ob sie noch im Rennen sind. Nach den jüngsten Protesten könnte sich das indes verzögern. Beobachter rechnen nicht damit, dass die Regierung die öffentliche Empörung weiter schüren wird. So sollten in dieser Woche auch Details über die Privatisierung des halbstaatlichen Maklers Emlak bekannt gegeben werden, auch das dürfte wohl verschoben werden, vermuten Türkei-Kenner.Wenn die Regierung Erdogan die Proteste eindämmen kann, dürfte der Privatisierungsprozess der Borsa Istanbul indes weitergehen. Nur bei größeren politischen Umwälzungen wäre mit einem Ende des Vorhabens zu rechnen, heißt es in der Branche. Bislang ist der politische Rückhalt für den Finanzplatz Istanbul und eine Beteiligung privater Investoren hoch. Erst am 5. April wurden die Aktien- und Derivatebörse sowie der Goldhandels zur neuen Borsa Istanbul zusammengelegt. “Die Borsa Istanbul bekräftigt Istanbuls Ankündigung, ein Finanzzentrum wie New York, Tokyo und London zu sein”, sagte Erdogan damals. Ein hehres Ziel, das derzeit in weiter Ferne liegen dürfte. Der Markt indes scheint daran zu glauben. Die Entschlossenheit der Regierung, die wirtschaftliche Stärke des Landes und die hohe Bevölkerungszahl sprechen dafür, dass sich der Markt entwickelt. “Die Borsa Istanbul steht noch am Anfang”, sagt DWS-Experte Kahlfeld. Er glaube grundsätzlich daran, dass von Istanbul aus der Sprung in östlich gelegene Staaten gelingt. Gerade Unternehmen in Ländern mit kleinen Börsen könnten sich in Istanbul listen lassen und so von der höheren Liquidität am türkischen Handelsplatz profitieren. Davon ist die Börse aber noch weit entfernt. “Ich glaube an diese Hubfunktion”, sagt Kahlfeld. “Bislang fehlen aber noch die Listings.” Ehrgeizige PläneDas ist auch Börsenchef Ibrahim Turkan klar. Im Februar sagte er in einem Interview, der Handelsplatz liege im Vergleich zu anderen Ländern zurück. Das liegt auch daran, dass türkische Unternehmen in der Regel im Familienbesitz liegen. Für den Weg an die Börse braucht es einen starken Gesinnungswandel. “In der Türkei gibt es ein Missverhältnis zwischen der Entwicklung von Wirtschaft, Handel und dem Bankgeschäft einerseits und den Kapitalmärkten andererseits”, sagte Turkan der “Financial Times”.Er will diese Lücke schließen und in den kommenden Jahren eine Marktkapitalisierung von 1 Bill. Dollar erreichen. Derzeit sind es rund 340 Mrd. Dollar.