Bürger von nirgendwo gegen Bürger von irgendwo
The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics. David Goodhart. Hurst & Company, London 2017, ISBN 978-1-84904-799-9, 278 Seiten, 15,99 Pfund.Von Andreas Hippin, LondonDavid Goodhart, der einstige Hausphilosoph von New Labour, hat das bislang lesenswerteste Buch zum Brexit verfasst. Es ist keine weitere Tirade gegen die Alten und Dummen, die der britischen Jugend angeblich keine strahlende Zukunft in Europa gönnen. Es enthält keine Anekdoten aus den Hinterzimmern der Macht, in denen all die Fehlentscheidungen gefallen sind, die dazu führten, dass sich am Ende eine Mehrheit der Briten für den Ausstieg aus der Europäischen Union aussprach. Stattdessen hat sich Goodhart mit der Entwicklung der öffentlichen Meinung zu unzähligen Themen beschäftigt – von der Zahl der gewünschten Kinder bis hin zu Globalisierung und Zuwanderung.Dabei kam er zu dem Schluss, dass sich in der Debatte über die Zukunft des Landes in Europa zwei Lager gegenüberstehen: progressiv-individualistische Universitätsabsolventen und Menschen ohne höheren Bildungsabschluss, die großen Wert auf Sicherheit und Vertrautheit legen, lokal verwurzelt sind und sich eher über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe definieren. Letzteren geht sowohl der demografische als auch der soziokulturelle Wandel in der britischen Gesellschaft viel zu schnell. Allerdings stemmen sie sich auch nicht prinzipiell dagegen. Sie lassen sich nicht in ihrer Gesamtheit als autoritär oder rassistisch abstempeln. Wer das tut, stellt die Gefahr von rechts dramatischer dar, als sie ist, und verharmlost dabei zugleich den echten Rechtsextremismus.Aus Goodharts Unterscheidung ergeben sich eine ganze Reihe von Konflikten – von der Einklagbarkeit individueller Rechte bei supranationalen Institutionen wie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bis hin zur Gleichstellung von Bürgern und Einwanderern, wenn es um Sozialleistungen geht. Bis zum EU-Referendum konnten sich die Anywheres, wie Goodhart diejenigen nennt, die aufgrund ihrer Bildung und ihrer Ungebundenheit nahezu überall auf der Welt ein Auskommen finden dürften, bei allen maßgeblichen politischen Entscheidungen in Großbritannien durchsetzen. Die britische Premierministerin Theresa May nannte die selbsternannten Weltbürger “Bürger von nirgendwo”. Nun zeigt sich, dass sie auf die Unterstützung der Somewheres angewiesen sind, deren Interessen sie in der Vergangenheit vernachlässigt haben. Werte für Wohlhabende”Anywheres betrachten sich in der Regel als tolerant, sozial bewusst und fortschrittlich, aber die wesentlichen Zutaten der Anywhere-Weltsicht – Offenheit, Meritokratie, Autonomie und das Begrüßen von Veränderungen – tendieren dazu, den Wohlhabenden, den Begabten und den Mobilen zu nutzen. Es ist zumindest auf kurze Sicht viel weniger wahrscheinlich, dass sie denjenigen zugutekommen, die in den unteren Ebenen des Einkommens- und Ausbildungsspektrums zu finden sind”, schreibt Goodhart. Natürlich ging es den Briten materiell nie besser als in der EU. Aber was den Brexit-Befürwortern Unbehagen bereitet, sind immaterielle Dinge wie die oft rasanten Veränderungen in den Nachbarschaften, in denen sie aufgewachsen sind, der Verlust des Zusammengehörigkeitsgefühls. Zu den interessantesten Erkenntnissen, die sich aus der Lektüre dieses Buchs ergeben, gehört, dass der gesellschaftliche Wertewandel an den Somewheres nicht vorbeigegangen ist, wenn es um Geschlechterrollen oder die Akzeptanz der Schwulenehe geht. Beunruhigend ist eher, dass Konservative offenbar toleranter sind als diejenigen, die sich für progressiv halten. Während fast ein Drittel der Labour-Wähler nach eigenen Angaben aufgebracht wäre, wenn sich eines ihrer Kinder zur Heirat mit einem Tory-Anhänger entschließen würde, war es andersherum gerade einmal ein Zehntel.Goodhart hat kein Patentrezept dafür, wie sich der tiefe Riss, der durch das Land geht, kitten lässt. Er rät jedoch dazu, das Tempo des gesellschaftlichen Wandels zu reduzieren und denjenigen, die sich davon bedroht fühlen, nicht ständig mit erhobenem Zeigefinger zu begegnen.