Die Börse und das Genom der Seegurke
Von Dietegen Müller, FrankfurtDie Deutsche Börse ist ein digitales Unternehmen. Das sagt sie immer wieder. Und damit sie den Innovationsvorsprung, der ihr nachgesagt wird, auch halten kann, wird in Wachstumsgebiete investiert. Da findet sich dann die eine oder andere Überraschung. Ohne Zweifel gehört das Datengeschäft auch zu den Bereichen mit Entwicklungspotenzial. Im sogenannten Content Lab, das von Konrad Sippel geleitet wird, soll die “Datifizierung” vorangetrieben werden, wie der Manager im Dezember auf einer Konferenz des Deutschen Aktieninstituts ausgeführt hat. Ambitionierte ZieleDa werden ambitionierte Ziele gesetzt – “Wir sitzen auf Unmengen von Daten und machen damit fast nichts” – und für einen Börsenbetreiber unkonventionell erscheinende Leute eingestellt. Denn um gesammelte riesige Daten mit angewandter Intelligenz zu analysieren, sucht die Börse kreative Ansätze. In dem 2017 aufgebauten Data-Science-Team sei etwa ein ehemaliger Forscher, der sich an der Universität Osaka mit der Entschlüsselung des Genoms der Seegurke beschäftigt habe.Oder jemand wird angestellt, der nach Planeten mit Spuren von Leben suchte – das Max-Planck-Institut oder California Institute of Technology (Caltech) fallen hier etwa als Referenz. Der “Weird-Planet-Algorithmus” dient dazu, etwas zu suchen, das es eigentlich gar nicht gibt. Es geht um die Suche nach etwas, das anders als alles andere ist. Dazu wird die “Weirdness” – die Seltsamkeit -mehrdimensional untersucht. Im konkreten Anwendungsfall für die Börse könnte dies etwa Betrugserkennung in der Abwicklung von Zahlungsausgängen beim Zentralverwahrer Clearstream sein. Es reicht also nicht nur, Zeitpunkt, Höhe oder Währung einer Zahlung als Referenzpunkt zu nehmen, sondern es kommen eine Vielzahl weiterer “Features” dazu. “Dies ist nicht mehr menschlich nachzuvollziehen” – weshalb hier auf Prozesse mit Maschinenlernen gesetzt wird.Dazu wurden auch schon mal sieben Millionen Datensätze durchforstet, ohne jedoch einen Betrugsfall zu identifizieren. Hier ergibt sich auch ein gewisser Rechtfertigungsdruck für die Datenfreaks: Wie viel Know-how wird in Betrugsbekämpfung investiert für den Fall, der nur alle Jahre oder alle hundert Millionen Transaktionen auftaucht?Es kann sich lohnen. Der Fall der Zentralbank von Bangladesch, bei dem 2016 Millionenbeträge mittels Anweisung durch das Zahlungsübermittlungsnetzwerks Swift von der Federal Reserve Bank of New York – wo die asiatische Notenbank ein Konto hatte – auf Konten der Hacker überwiesen wurden, ist inzwischen legendär. “Wir wissen nicht, ob das Modell funktioniert, bis wirklich ein Betrugsfall passiert”, sagt Sippel.Immerhin war ein Fall eindeutig: Wegen einer IT-Panne war eine Bank lange lahmgelegt und hatte an diesem Tag dann alle Zahlungen erst kurz vor Mitternacht ausgelöst. Da sei tatsächlich auch der höchste Weirdness Score erreicht worden, so Sippel. Eine bessere Analyse von Marktdaten könnte aber auch Anreize in Market-Maker-Modellen schaffen oder etwa voraussagen, wie stark sich der Preis zwischen Orderaufgabe und Ausführung verändern dürfte.Gerade für institutionelle Investoren, die große Tickets handeln, ist dies von Interesse. Dazu könnten statistische Methoden in Kombination mit Datenwissenschaft zum Einsatz kommen. Es sei aber sehr schwierig, in einem Markt, der von vielen Faktoren bewegt werde, innerhalb von Nanosekunden belastbare Aussagen zu treffen, meint der Deutsche-Börse-Manager.Auch eine Smart-RFQ-Dienstleistung fällt in diesen Bereich. In den wieder populären Request-for-Quote-Systemen kann ein Modell zur besten Ermittlung der Gegenpartei für potenzielle Trades herangezogen und damit eine verbesserte Liquidität geschaffen werden. Wer handelt wie viel, wer ist in der Lage, die Trades überhaupt zu machen? Das Einverständnis der Gegenparteien vorausgesetzt, hofft die Deutsche Börse hier eine wettbewerbsfähige Dienstleistung anzubieten. Aus dem Vollen schöpfenSie kann dabei aus dem Vollen schöpfen: Da sie Handel, Verrechnung (Clearing) und Abwicklung aus einer Hand anbietet, hat sie hier tiefe Einblicke – allerdings noch verteilt in verschiedenen “Silos”, und noch muss der Kunde mit einem “Opt-in” der Börse erlauben, in diesen Daten “herumzuwühlen”. Zugleich hätte der Dienstleister es damit auch elegant geschafft, sich als Intermediär nicht überflüssig zu machen. Dies wiederum wollen ja auch andere innovative Spieler in der Finanzbranche, die auf dezentrale Architekturen setzen.—–Die Deutsche Börse will innovativ sein. Im Datengeschäft zeigt sich die knifflige Umsetzung.—–