NOTIERT IN ESSEN

Eine Art Hidden Champion mitten im Ruhrgebiet

Nun wäre also auch das erforscht: "Der Bank- und Börsenplatz Essen". Wie bitte? Der Bank- und Börsenplatz wo? Sie haben richtig gelesen: Essen. Darauf wären wir auch nicht unmittelbar gekommen. Aber jetzt liegt das im Verlag C. H. Beck erschienene...

Eine Art Hidden Champion mitten im Ruhrgebiet

Nun wäre also auch das erforscht: “Der Bank- und Börsenplatz Essen”. Wie bitte? Der Bank- und Börsenplatz wo? Sie haben richtig gelesen: Essen. Darauf wären wir auch nicht unmittelbar gekommen. Aber jetzt liegt das im Verlag C. H. Beck erschienene 555-Seiten-Werk – viel kürzer können Historiker nicht – von Patrick Bormann und Joachim Scholtyseck vor uns. Wir wollen keinen Minderwertigkeitskomplex unterstellen, doch schon das Grußwort des Vorstands der in Essen beheimateten National-Bank offenbart: Man fühlt sich unter Wert gehandelt in der viertgrößten Stadt Nordrhein-Westfalens. “Viel zu häufig wird die Stadt in ökonomischer Hinsicht und kommunikativ-medialer Wahrnehmung auf Kohle, Stahl und Energieerzeugung reduziert. Das spiegelt ein Bild wider, das der historischen Bedeutung des Finanzplatzes nicht gerecht wird.” Diese “Wahrnehmungsdissonanz” soll mit Hilfe der von der Bank initiierten und geförderten, aber unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung beseitigt werden. Zumal die Geschichte des Banken- und Börsenplatzes Essen “bislang nicht im Forschungsinteresse” stand und die Forschungslage aus Sicht der Autoren “disparat” war.Fangen wir mit der 1865 gegründeten Essener Börse an. Wir hatten, ehrlich gesagt, ganz vergessen, dass es mal eine gab. Was daran liegen mag, dass sie im Zuge einer vom Reichswirtschaftsminister betriebenen Konzentration der Wertpapiermärkte schon Ende 1934 geschlossen und mit den Handelsplätzen Köln und Düsseldorf zur “Rheinisch-Westfälischen Börse zu Düsseldorf” zusammengelegt wurde. Eine gewisse Berühmtheit hat Essen als Markt für Kuxe erlangt, Anteilscheine von “Gewerkschaften”, einer bis in die 1990er Jahre bestehenden bergbaulichen Unternehmensform, die nichts mit Arbeitnehmervereinigungen zu tun hat. Die “Gewerken” (Anteilseigner) mussten bei Kapitalbedarf eine “Zubuße” leisten und erhielten bei Gewinnen eine “Ausbeute”.Das Buch (Hardcover 39,95/E-Book 33,99 Euro) zeichnet die Geschichte dieses Bank- und Börsenplatzes seit Beginn des 19. Jahrhunderts über die Etappen Kaiserreich, Weimarer Republik, Weltwirtschaftskrise, Drittes Reich, die Weltkriege und die jüngere Vergangenheit bis zur hochaktuellen Gegenwart in extenso nach – bei dem Umfang kein Wunder. Manch geneigter Leser wird die eine oder andere auflockernde Anekdote vermissen, aber die gaben die historischen Archive wohl nicht her.Langweilig ist der Wälzer trotzdem nicht. Sehr spannend liest sich etwa der Abschnitt über den rasanten Aufstieg und den noch steileren Absturz des einstigen “Vorzeige-Kindes des Reviers”, der Hypothekenbank in Essen. Beides ist vielen Zeitgenossen ja noch gut in Erinnerung. Dazu hätten es gerne ein paar mehr Details sein dürfen. Nach etlichen Stunden Lektüre ist der Rezipient endlich überzeugt, dass die einst von Kohle und Eisen geprägte “Ruhrmetropole” nicht nur neun der 100 umsatzstärksten deutschen Industrie- und Handelsunternehmen sowie eine Vielzahl von Mittelständlern beherbergt, sondern bis heute tatsächlich mehr Finanzplatz ist, als man gemeinhin denkt. Mit seinen Unternehmen sei Essen “eine Kapitalmarktstelle mit einer Bilanzsumme”, lesen wir, “die durchaus mit Finanzmärkten wie München und Frankfurt am Main mithalten kann, eine Art ,Hidden Champion` mitten im Ruhrgebiet”. Leider sind die Tage der dortigen Bundesbank-Filiale gezählt.Über weite Strecken wird die große weite Finanzwelt auf die Essener Lindenallee heruntergebrochen: Finanzkrise (“Vor allem das Investment Banking erscheint rückblickend als ein Krisenfaktor”), Staatsschuldenkrise und EZB-Zinspolitik (“schleichende Enteignung der Sparer”), Filialsterben, Regulierung, Digitalisierung et cetera.Neben der legitimen Werbung für den Standort Essen schimmert in dem Werk ein ordentliches Maß an Sympathie für die unter anderem als Kulturförderin lobend erwähnte National-Bank und ihren Chef Thomas A. Lange durch. Der ehemalige Deutsch-Banker vertrete “anders als John Cryan”, der Noch-Chef der Blauen, die Ansicht, die Größe eines Unternehmens sei kein Wert an sich. Die Entwicklung vieler systemrelevanter Institute stelle dies unter Beweis, das Vertrauen vieler Investoren sei verspielt – aktuelle Botschaften via Bank- und Börsenhistorie. Aber er hat ja Recht.