Fortbestand von Wirecard gefährdet
Wirecard kämpft ums Überleben. Infolge des aufgedeckten Bilanzbetrugs und der eskalierten Vertrauenskrise ist die Existenz des vor 21 Jahren gegründeten Zahlungsabwicklers gefährdet. Das im September 2018 in den Dax aufgestiegene Unternehmen gibt die im Feuer stehenden 1,9 Mrd. Euro verloren. Die Aktie setzte ihre Talfahrt fort.sck München – Die zugespitzte Vertrauenskrise am Kapitalmarkt und der Bilanzskandal haben Wirecard in eine existenzbedrohliche Lage gebracht. Am Montag setzte die Aktie ihre Talfahrt fort. Das Papier sackte zeitweise um die Hälfte auf 12,99 Euro ab und beendete den Xetra-Handel bei 14,44 Euro (- 44,1 %). Der Titel fiel damit auf das Kursniveau von Mitte 2012 zurück. Das Dax-Unternehmen wird am Markt nur noch mit 1,8 Mrd. Euro bewertet. Seit Beginn des Kurssturzes am Donnerstag verlor der Titel binnen drei Handelstagen rund 90 % an Wert. Seitdem lösten sich 11 Mrd. Euro Marktkapitalisierung in Luft auf.Eine in der Nacht vom Sonntag auf den Montag veröffentlichte Ad-hoc-Meldung von Wirecard offenbarte die Dramatik der Situation. Darin bekräftigte der Zahlungsabwickler, mit seinen Gläubigerbanken um die Verlängerung einer Kreditlinie zu verhandeln, räumte aber zugleich ein, Einschnitte zu planen, um die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs zu gewährleisten. Umfangreiche Einsparungen sind möglicherweise eine Bedingung dafür, dass die kreditgebenden Geldhäuser dem bayerischen Unternehmen überhaupt noch ein Überbrückungsdarlehen gewähren.Wirecard steht bei den Banken mit rund 1,8 Mrd. Euro in der Kreide. Dabei handelt es sich um eine genutzte Summe aus einem revolvierenden Darlehen von rund 20 Banken. Diese stammen laut Bloomberg aus Europa und China, darunter deutsche Institute wie die Commerzbank, Deutsche Bank, LBBW und DZ Bank, aber auch österreichische Geldhäuser (darunter Raiffeisen International). Einer Präsentation von Wirecard zufolge waren von dieser Kreditlinie im November 2019 noch rund 800 Mill. Euro ungenutzt.Weitere Refinanzierungsquellen aus Fremdkapital waren eine im September vorigen Jahres emittierte Anleihe (500 Mill. Euro) und eine Wandelanleihe von 900 Mill. Euro aus der Einstiegstransaktion mit dem japanischen Investor Softbank vom Frühjahr 2019.Die Kreditfazilität ist seit dem Freitag faktisch zur Rückzahlung unverzüglich fällig, da der Konzern bis zu dieser Frist nicht in der Lage war, eine testierte Bilanz für 2019 vorzulegen. Der Grund: Der Abschlussprüfer Ernst & Young (EY) verweigerte aufs Erste seinen Bestätigungsvermerk, da Hinweise auf einen Bilanzierungsbetrug beständen. So konnten zwei philippinische Banken auf deren Konten verbuchte 1,9 Mrd. Euro zugunsten von Wirecard nicht bestätigen. Dabei handelt es sich um die Institute BDO Unibank und BPI. Letztere bezeichnete Dokumente, die die Existenz dieser Konten belegen sollten, als “plumpe Fälschung”. Zuvor äußerte sich der Chef von BDO ähnlich (vgl. BZ vom 20. Juni).Wirecard geht laut Meldung mittlerweile davon aus, dass dieses Geld verloren ist. “Der Vorstand (. . .) geht aufgrund weiterer Prüfungen derzeit davon aus, dass die bisher zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten von 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen”, teilte der Konzern ad hoc mit.Dabei geht es um Treuhandvermögen, welches Wirecard für Kundentransaktionen über Geschäfte als Drittlizenzpartner benötigt. Ein als Treuhänder von Wirecard installierter philippinischer Kaufmann steht unter dem Verdacht, diesen Betrag veruntreut zu haben. Wirecard selbst sprach von einem “gigantischen Betrugsfall”. Die Summe macht ein Viertel der Konzernbilanz aus.Nach letztem, von EY testiertem Stand (per Ende 2018) umfasst die verloren gegangene Summe 70 % der Zahlungsmittel der Wirecard AG. Die börsennotierte Gesellschaft hatte seinerzeit 2,7 Mrd. Euro als Finanzmittel in der Bilanz stehen. Das Eigenkapital von 1,9 Mrd. Euro umfasste damals ein Drittel der Bilanzsumme. Die Schulden selbst lagen bei 3,9 Mrd. Euro. Zu den Kreditverbindlichkeiten kommen noch Anleiheschulden von 500 Mill. Euro hinzu. Einen Bond emittierte Wirecard im September vergangenen Jahres, um sich frische Mittel zu beschaffen. Nicht verlässliche DatenMoody’s stufte diese Anleihe am Freitagabend nach Börsenschluss auf Ramschniveau um sechs Stufen auf “B3” herab mit negativem Ausblick. Am Montag teilte die Agentur mit, die Bewertung einzustellen aufgrund nicht verlässlicher Daten des Konzerns. In der Ratingskala von Moody’s liegt diese Note nur noch um einen Notch über “Caa1”. Das heißt, der Konzern steht nur noch einen Schritt auf der untersten Ebene (“Caa bis C”), ab der ein sehr hohes Ausfallrisiko für Gläubiger besteht. Faktisch hält die US-Ratingagentur das weiß-blaue Dax-Mitglied damit für insolvenzgefährdet.Diesen Eindruck muss wohl auch der als Interimsvorstandschef installierte amerikanische Jurist James Freis haben. Der Topmanager folgte am Freitag auf den langjährigen Vorstandsvorsitzenden Markus Braun. Der Firmengründer und Großaktionär erklärte kurz zuvor seinen unverzüglichen Rücktritt nach dem Bekanntwerden der gravierenden Bilanzunregelmäßigkeiten. Der gebürtige Wiener hält noch 7,1 % des Grundkapitals. Dieses Paket wird immer weniger wert. Am Montag waren es zeitweise nur noch 114 Mill. Euro. Ende April standen noch 1,2 Mrd. Euro auf dem Kurszettel von Braun. Selbst für den promovierten Wirtschaftsinformatiker wird es finanziell eng. Denn vor drei Jahren soll er seine Beteiligung als Sicherheit für ein Darlehen über 150 Mill. Euro hinterlegt haben. Von diesem Pfandrecht könnte der Gläubiger Gebrauch machen, sollte Wirecard tatsächlich pleitegehen. Houlihan Lokey soll helfenFreis ist derweil damit beschäftigt, die von einer Schieflage bedrohte Wirecard AG finanziell zu stabilisieren, um das operative Geschäft nicht zu gefährden. Seine erste offizielle Amtshandlung war es wohl, die kalifornische Investmentbankboutique Houlihan Lokey als Retter in der Not zu mandatieren, wie Wirecard am Freitagabend mitteilte.Die Gesellschaft mit Hauptsitz in Los Angeles tritt dann in Erscheinung, wenn nicht nur allein das Dach brennt, sondern bereits das gesamte Haus. Houlihan Lokey beriet in den USA unter anderem die Pleitefälle Enron, General Motors und Lehman Brothers. In Deutschland war die Gesellschaft unter anderem bei den Pleitefällen Steinhoff, Jack Wolfskin und Reederei Rickmers aktiv.