Geblendet vom Erfolg
Der Fall Wirecard hält den Finanzmarkt in Atem. Es steht der Vorwurf des Betrugs im Raum. Erst am Freitag rauschte die Marktkapitalisierung des Zahlungsdienstleisters nach einem Bericht der “Financial Times” erneut in den Keller. 1,7 Mrd. Euro lösten sich auf. Die Kapitalanleger verfolgen das Geschehen mit einer Mischung aus Entsetzen und Schaulust. Kein Wunder, denn der Plot ist außergewöhnlich – und für jede Interpretation offen. Wird eine Erfolgsstory aus der deutschen Finanzszene von der mächtigen angelsächsischen Wirtschaftszeitung zerstört? Oder gaukelt Wirecard mit einer Kultur des Täuschens vielmehr Erfolge vor, die es gar nicht gibt?So sensationsheischend die Fragen in derartigen Fällen häufig daherkommen, so langweilig fallen zuweilen die Antworten aus. In der Regel folgen weder Journalisten einer übergeordneten Agenda noch Unternehmer einer Schwindel-Leitlinie. Vielmehr hakt es auf beiden Seiten meist, wenn überhaupt, am handwerklichen Know-how. Insofern gilt: Auch wenn der Fall Wirecard manchem Manager exotisch erscheinen mag und auch wenn er einzigartige Facetten hat, können Unternehmen trotzdem viel lernen.Denn: Der Kern der Geschichte ist, dass sich hier ein Unternehmen auf die operative Kür beschränkt hat, statt zugleich seine Hausaufgaben abzuarbeiten. Vorstandsvorsitzender und Großaktionär Markus Braun polte das Unternehmen auf technologische Exzellenz und Wachstum. Diese Vertriebsorientierung samt forcierter Expansion mündete in eine weit verzweigte Organisation, dagegen wurde der Aufbau zentraler Ressourcen vernachlässigt. Weder besitzt Wirecard eine schlagkräftige Compliance-Abteilung noch eine effiziente Kommunikationsstrategie oder einen unternehmensweiten Durchgriff. In der Konsequenz ist das Management nicht in der Lage, mit einer Notfallplanung und genügend qualifiziertem Personal auf eine Krise zu reagieren. Es wurde auch versäumt, dem Kapitalmarkt in der Tiefe zu erklären, warum das eigene Produkt der Technologie der Konkurrenz so überlegen sein soll. Die Folge: der Verlust von Vertrauen. Dies, und nicht der Betrugsvorwurf an sich, ließ mehr als 8 Mrd. Euro Marktkapitalisierung verpuffen.Das Missachten der Hausaufgaben ist leider kein Einzelfall in der deutschen Unternehmenslandschaft. Ein weiteres Beispiel: Ebenfalls am vergangenen Freitag verlor der Automobilzulieferer Leoni mehr als 300 Mill. Euro Marktkapitalisierung und damit ein Drittel seines Wertes. Die vordergründige Ursache: das Verfehlen von Gewinnzielen. Weil das Risiko zum unternehmerischen Wagnis zählt, kann das Unterschreiten von Prognosen jedem Manager passieren. Doch auch in diesem Fall mangelt es an Strukturen, die ein frühzeitiges Gegensteuern ermöglicht hätten. Der Vorstand musste zugeben, es fehle an Transparenz im internen Berichtswesen. Bereits frühere Leoni-Vorstände hatten dies diagnostiziert.Wirecard und Leoni kommen aus verschiedenen Welten, doch sie eint die Fokussierung auf Wachstum. Der Zahlungsdienstleister hat seinen Umsatz im laufenden Jahrzehnt verachtfacht, der Autozulieferer immerhin mehr als verdoppelt. Im neunten Jahr des deutschen Aufschwungs wollen viele Firmenlenker auf diesen Weg einschwenken. Die neue Devise bis hinauf zu Siemens und Allianz lautet: Wertsteigerung speist sich aus mehr Umsatz. Wer will angesichts solcher sexy Perspektiven an dröge Hausaufgaben denken? Eigentlich sollte dies aber jedes Management tun, sonst endet ein geschäftlicher Höhenflug schnell als Bauchlandung. Die Firmenchefs wählen einen anderen Weg. Es ist beängstigend, mit welcher Radikalität sie ihre Zentralressorts wie beispielsweise Kommunikationsabteilungen verkleinern. Dies steigert kurzfristig die Rendite, aber mittelfristig das Risiko.Nun bestreiten die meisten Vorstände im Grundsatz gar nicht den Wert von Hausaufgaben, reden ihn allerdings in der Praxis klein. Die Besonderheit von Wirecard ist, dass mit Braun ein Manager an der Spitze steht, den Hausaufgaben nicht interessieren. Seine Aussage, die ganze Sache sei ein Non-Event und man könne schnell wieder an die Arbeit gehen, offenbart Ignoranz. Braun hat den Ernst der Lage nicht verstanden. Der Aufsichtsrat muss den Mumm haben, dies dem Großaktionär klarzumachen und ihm einen Kommunikator an die Seite zu stellen. Außerdem sollte er einen konzernerfahrenen Experten für Organisation und Struktur in den Vorstand berufen. Wirecard ist wie wild gewachsen, dieser Wildwuchs braucht eine Form – sonst zerbricht die Firma am eigenen Erfolg.—–Von Michael FlämigWachstum ist eine tolle Sache. Wenn das Management aber die Basis vernachlässigt, kann eine Firma zerbrechen. Dies zeigen die Fälle Wirecard und Leoni.—–