Mehr können als Amazon und Co.
“E-Commerce-Riese macht Milliardenumsätze mit Geschäftskunden”, lauteten Schlagzeilen im Herbst 2018. Nach dem Start seiner B2B-Handelsplattform “Amazon Business” drei Jahre zuvor hatte Amazon erstmals Zahlen veröffentlicht: Hochgerechnet 10 Mrd. Dollar Jahresumsatz mache der Onlinehändler mit seinen Geschäftskunden. In Deutschland, wo die Handelsplattform 2016 an den Start gegangen war, zählten mittlerweile 22 der 30 Dax-Konzerne sowie 11 der 15 größten Städte zu den Kunden. Bisher gilt hierzulande der Großhandel als wichtigster Lieferant für Waren. Mit einem Jahresumsatz von 1,1 Bill. Euro und 1,9 Millionen Beschäftigten hat er zentrale Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland.Doch hat der klassische Großhandel noch eine Zukunft – angesichts digitaler Vertriebswege, veränderter Kundenerwartungen und Wettbewerbern wie Amazon oder Ebay, die mit eigenen B2B-Handelsplattformen in direkte Konkurrenz zum Großhandel treten und die traditionellen Handelsbeziehungen aufbrechen? Die Antwort ist ein entschiedenes Ja. Vorausgesetzt, der klassische Händler hat den Mut, vorausschauend seine gesamten Geschäftsmodelle den Anforderungen der neuen Zeit anzupassen. Auch die BayWa, die seit knapp 100 Jahren menschliche Grundbedürfnisse wie Ernährung, Wohnen, Wärme und Mobilität bedient, stellt sich diesen Veränderungsanforderungen.Um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein, muss der Großhandel mehr bieten als den bloßen Produktverkauf. In der Landwirtschaft zum Beispiel war der Kunde früher mit dem Bezug der reinen Ware wie Saatgut oder Dünger zufrieden. Heute können das branchenfremde Onlinehändler genauso gut. Was ihnen aber im Gegensatz zum spezialisierten Großhandel komplett fehlt, ist der persönliche Kontakt zum Landwirt, das Verständnis für pflanzenbauliche Zusammenhänge sowie der Wille oder die Fähigkeit, das Produkt optimal in den Betriebsablauf zu integrieren.Geliefert wird im Onlinehandel das Produkt – das können neben physischen Gütern auch digitale Daten sein -, aber anschließend bleibt der Kunde sich selbst überlassen. Dabei zeigt die langjährige Praxis, dass der persönliche Beratungsbedarf im Agrarbereich ein wesentlicher Punkt ist und gerade mit der Digitalisierung weiter steigt. Hier hat der Großhandel die Chance, sich durch gezielten qualitativen Ausbau der Kundenbeziehung einen Vorsprung zu sichern.Die Landwirtschaft ist eine der wenigen Branchen, die bereits seit 30 Jahren Erfahrung mit dem Einsatz digitaler Technologien hat. Innovationen müssen dabei nicht zwingend aus dem Silicon Valley kommen: Kleine und mittlere deutsche Unternehmen (KMU) wie der Agrarsoftware-Anbieter Farmfacts oder die Vista GmbH mit ihrer Expertise in der Satellitendatenfernerkundung befassen sich seit Mitte der 1980er und 1990er Jahre mit der Thematik. Beide Unternehmen sind heute Marktführer auf ihrem Gebiet. Mit ihrer Beteiligung an diesen beiden Unternehmen verfügt die BayWa über die Kompetenz, eine der größten Herausforderungen in der Agrarwirtschaft zum Vorteil ihrer Kunden anzugehen.Durch die Digitalisierung verschmelzen traditionelle Handelsgüter wie landwirtschaftliche Maschinen und Betriebsmittel immer stärker mit Sensor- und Satellitendaten, Drohnenaufnahmen und Software, aber auch persönlicher Anbauberatung. Nur so wird es in Zukunft möglich sein, die weltweite Versorgung mit gesunden, bezahlbaren Nahrungsmitteln zu sichern und gleichzeitig ressourcenschonender zu produzieren – sowohl in Industriestaaten als auch in Wachstums- und Entwicklungsländern. Die Politik hat das Potenzial – endlich – erkannt: Im Januar verständigten sich auf der Berliner Agrarministerkonferenz die Landwirtschaftsminister aus 74 Ländern auf gemeinsame Zielvorgaben zur Förderung der Digitalisierung in der Landwirtschaft. Mut und Weitblick habenStellen Trends die Zukunft kompletter Geschäftsbereiche in Frage, muss der Großhandel auch den Mut und strategischen Weitblick haben, zukunftsfähige Geschäftsfelder in neue Geschäftsmodelle zu überführen. Bestes Beispiel hierfür ist die BayWa r.e: Der Einstieg in die erneuerbaren Energien war für die BayWa als klassischen Kraft- und Schmierstoffhändler Neuland. Heute, zehn Jahre nach ihrer Gründung, hat die BayWa r.e. weltweit über 2,5 Gigawatt Energie aus regenerativen Quellen ans Netz gebracht. Das Gesamtinvestment in dieser Zeit beläuft sich auf rund 300 Mill. Euro, der erzielte Umsatz auf knapp 7,3 Mrd. Euro. Damit hat das neue Geschäftsfeld unmittelbar zur Wertsteigerung des BayWa Konzerns beigetragen.Auch im abgelaufenen Geschäftsjahr 2018 werden die regenerativen Energien das erfolgreichste Geschäftsfeld sein und den größten Anteil am Konzernergebnis bringen. In wenigen Jahren sollte ein Brechen der Schallmauer von 100 Mill. Euro Ebit (Gewinn vor Zinsen und Steuern) möglich sein.Für den langfristigen Erfolg bei den erneuerbaren Energien kommt es aber auf Lösungen an, die zusätzlichen Nutzen stiften und im besten Fall der gesamten Branche Rückenwind verleihen. Die Projektierung des Solarparks “Don Rodrigo” 2018 in Spanien war nicht nur aufgrund seiner Größe ein Meilenstein in der Firmengeschichte. Viel entscheidender war, dass mit dem Projekt erstmals in Europa Solarstrom ohne Förderung zu Marktpreisen erzeugt wird. Damit steht “Don Rodrigo” für eine neue Ära in der Energiewende, in der grüner Strom günstiger produziert werden kann als konventioneller. Erneuerbare Energien zu wettbewerbsfähigen Preisen sind somit schlagartig auch für Märkte ohne Förderung eine reale Option.Mit der Akquise des Leipziger Energiedienstleisters Clean Energy Sourcing hat sich die BayWa r.e. darüber hinaus eine wichtige Position in der Direktvermarktung gesichert. Sie bleibt damit auch zukünftig in ihrer Rolle als klassischer Händler Teil der Wertschöpfungskette, handelt nun aber zusätzlich mit ganz anderen Produkten als bisher.Für den Großhandel lohnt es sich also, Geschäftsfelder neu zu denken oder bestehende weiter zu fassen – immer mit dem Ziel, Zusatznutzen für den Kunden zu generieren. So ist zum Beispiel aus dem Grundbedürfnis Wohnen mittlerweile der Anspruch nach energieeffizientem und gesundem Wohnen erwachsen. Das bedeutet: Auch im Baustoffhandel hat nur derjenige eine Zukunft, dessen Angebot über den reinen Warenhandel hinausgeht. Einen Multichannel-Vertrieb aufzusetzen und diesen mit einem digitalen Baustellen- und Belegmanagement zu kombinieren, wie dies der Baustoffbereich der BayWa getan hat, ist weit mehr als das, was der Onlinehandel zu leisten im Stande ist. Werden dann noch durch Systemleistungen Zukunftsthemen wie Energieeffizienz und gesundes Bauen besetzt, zeigt dies die ganze Bandbreite und das Potenzial des klassischen Handels.Dass die Baustoffindustrie jetzt verstärkt in die Vorfertigung ganzer Module geht und direkt an die Baustellen liefert, greift direkt in die Kernkompetenz des klassischen Baustoffhandels ein. Es sei denn, der Großhändler definiert sich in diesem Konzert neu und übernimmt zusätzlich die Rolle als Servicepartner für die Materialwirtschaft. Damit sorgt er für die zuverlässige Bestückung der Produktionslinie des Herstellers und ist wieder Teil der Wertschöpfungskette. Auch derartige Veränderungen hat die BayWa im Rahmen von Unternehmenskooperationen im Blick und entwickelt daraus für sich neue Chancen.Wie nachhaltig ein Unternehmen wirtschaftet und welche sozialen wie ökologischen Bedingungen es an sich selbst, aber ebenso an seine Lieferanten und Vertriebspartner stellt, sind Kriterien, an denen auch der Großhandel immer stärker gemessen wird.Grundsätzliche Themen wie der Klimawandel, die Digitalisierung oder der demografische Wandel erzeugen letztlich auch bei den Kunden Veränderungsdruck. Ein Großhändler, der Lösungen aufzeigen kann, mit denen seine Kunden in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben, muss Amazon und Co. nicht fürchten. Der Einsatz künstlicher Intelligenz zum Beispiel bietet die Chance, den drohenden Arbeits- und Fachkräftemangel in Industrienationen aufzufangen.Schon heute finden Agrarbetriebe in dem sehr handarbeitsintensiven Bereich der Sonderkulturen kaum mehr genügend Arbeitskräfte, um die Früchte vollständig und zum richtigen Zeitpunkt zu ernten. Der Mindestlohn trägt dabei nur wenig zur Entspannung bei, verteuert aber die Produktion, was sich schließlich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Produzenten auswirkt. T&G Global, Marktführer im neuseeländischen Obstgeschäft, wird in dieser Saison erstmals Pflückroboter bei der Apfelernte einsetzen – eine Entwicklung des kalifornischen Start-ups Abundant Robotics, an dem neben Google auch die BayWa beteiligt ist.Gleichzeitig muss uns aber bewusst sein, dass künstliche Intelligenz nicht immer und überall nur Gutes bringen kann, sondern zum Teil auch Arbeitsplätze in Frage stellt. Für eine solche neue Arbeitswelt muss die Arbeits- und Sozialpolitik frühzeitig die Rahmenbedingungen anpassen: durch eine verbesserte Aus- und Weiterbildung, die Förderung der digitalen Kompetenzen der Menschen, egal welcher Altersklasse und Bildungsschicht, sowie einen gleichberechtigten Zugang zu einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur.—-Klaus Josef Lutz, Vorstandsvorsitzender der BayWa AG