„Nicht Sünden anderer ausbügeln“
Antje Kullrich.
Herr Rollinger, wie ist das Geschäftsjahr 2020 für die R+V gelaufen?
Insgesamt würde ich von einem ordentlichen Geschäftsjahr sprechen. Wir haben einige Schäden, weil wir in den Sparten engagiert sind, die von der Pandemie betroffen sind. Wir haben Schäden durch Betriebsschließungen, sind einer der führenden Kreditversicherer und sichern Veranstaltungen, die Reisebranche und auch Kurzarbeit in unseren Restschuldversicherungen ab. Außerdem betreiben wir eine aktive Rückversicherung, die auch betroffen ist. Die Ergebnisse hätten besser sein können. Aber mit den Beitragseinnahmen, die querbeet über alle Sparten gewachsen sind, bin ich sehr zufrieden: Wir haben mit 7,5% deutlich stärker zugelegt als der Markt mit 1,2%.
Worauf führen Sie das starke Wachstum zurück?
Wir haben als führender Bankassurance-Versicherer in Deutschland und mit der Kooperation mit den Volks- und Raiffeisenbanken ein gutes und stabiles Geschäftsmodell. Das hat sich als sehr robust in der Krise erwiesen. Dazu kommt die eigene Anstrengung in unserem Vertrieb. Wir haben schon sehr früh die Digitalisierung vorangetrieben und gleich am Anfang der Pandemie die digitale Signatur eingeführt. Dadurch können wir in fast allen Sparten Verträge online abschließen. Die Pandemie hat den Menschen außerdem vor Augen geführt, dass es viele Risiken gibt, und damit den Versicherungsbedarf allgemein eher erhöht.
Obwohl die Pandemie selbst ja als nicht versicherbar gilt.
Ja, die Pandemie selbst ist nicht versicherbar, da sie alle trifft und uns der Ausgleich über Regionen und Zeit fehlt. Aber die Lage schärft trotzdem das Bewusstsein für das Thema Absicherung. Und der eine oder andere hatte sicher auch die Zeit, über seine Versicherungen nachzudenken und sich damit zu beschäftigen.
Können Sie die Pandemie-Effekte für die R+V im Saldo beziffern? Wo hatten Sie Belastungen und wie viel mehr haben Sie in der Kfz-Versicherung verdient?
Wir haben insgesamt im Saldo eine Belastung, die bei rund 320 Mill. Euro liegt. Darin sind zum Beispiel 35 Mill. Euro Schäden in der Betriebsschließungsversicherung enthalten, in der wir jährlich 2,5 Mill. Euro an Beiträgen einnehmen. Auch die Schäden durch Veranstaltungsausfälle lagen in dieser Größenordnung. Entlastung haben wir in der Hausratversicherung, denn da die meisten Menschen zu Hause bleiben, haben es auch die Einbrecher schwer. In der Kfz-Versicherung ist die Zahl der Schäden stark zurückgegangen, aber der einzelne Schaden ist durchschnittlich um 4 bis 5% höher. In der Summe führt das zu einem ordentlichen Ergebnis für die Gruppe, auch wenn wir unser Ziel nicht erreicht haben.
Sind Sie mit Kunden in Rechtsstreitigkeiten wegen Betriebsschließungsversicherungen?
Ja, wir haben aktuell 26 Klagen anhängig. Vier Klagen sind inzwischen entschieden – drei sind abgewiesen worden und eine hat der Kläger zurückgezogen. Wir haben sehr klare Bedingungen. Wir haben die Viren enumerativ aufgezählt und nicht pauschal auf das Infektionsschutzgesetz verwiesen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass die anderen Klagen auch so entschieden werden. Auch branchenweit gehen etwa 80 bis 90% der Klagen zugunsten der Versicherer aus. Da ist das Bild in der Öffentlichkeit vielleicht etwas verzerrt. Es tut mir leid, wenn sich Kunden etwas anderes erhofft haben. Aber eine präventive Maßnahme des Staates kann ich in einer kleinen Sparte, die branchenweit auf insgesamt 25 Mill. Euro Beitragseinnahmen bei einer Deckungssumme von 19 Mrd. Euro kommt, nicht versichern. Trotzdem müssen wir uns als Branche anrechnen lassen, dass die eine oder andere Formulierung unsauber war.
Die R+V ist einer der großen Kreditversicherer in Deutschland. 2020 dürfte es durch die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht noch ruhig geblieben sein.
Wir haben schon einen deutlichen Anstieg der Schadenquote, weil wir zum Teil auch Vorsorge getroffen haben. Natürlich hat die ausgesetzte Insolvenzantragspflicht dazu geführt, dass die Schäden im Rahmen blieben. Aber man muss sagen, dass der Staat am Rettungsschirm 2020 Geld verdient hat. In der Warenkreditversicherung haben wir ab März zwei Drittel unserer Beitragseinnahmen abgegeben und der Staat hat dann einen Schutzschirm von 30 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt. Wir haben 10% eines jeden Schadens getragen. Weil es nicht den befürchteten Schadenverlauf gegeben hat, haben wir zwar etwas höhere Schäden, aber insgesamt ist das positiv für den Staat ausgegangen. Wir mussten aus dem restlichen Drittel an Beitragseinnahmen unsere Kosten und auch den zehnprozentigen Schadenanteil tragen. Für uns war der Schutzschirm eine gute Absicherung gegen erhöhte Insolvenzraten, aber die sind letztlich nicht eingetreten.
Mit welcher Belastung rechnen Sie 2021 und wird der Schutzschirm Ihre Schaden-Kosten-Quote unter 100 halten?
Wir machen uns schon Sorgen, dass die Zahl der Insolvenzen deutlich steigen könnte, weil das eine oder andere nicht überlebensfähige Geschäftsmodell durch die Hilfen am Laufen gehalten worden ist. Aber wie das in diesem Jahr aussieht, kann ich noch nicht sagen. Für das erste Halbjahr geben wir unter dem Schutzschirm rund 60% unserer Beitragseinnahmen an den Staat ab. Wenn jetzt viele Schäden auftreten, kann es sein, dass wir gedeckelt bei 100 oder 120% Schaden-Kosten-Quote herauskommen. Sicher ist nur, dass wir keinen Mega-Schaden haben werden, solange der Schutzschirm aktiv ist. Sein Sinn ist es ja, dass wir unsere Deckungen in dem bisherigen Umfang aufrechterhalten können. Und das haben wir. Sonst hätten wir unsere Linien zurückfahren müssen.
Die R+V gehört zu denen, die die Überschussbeteiligung in der Lebensversicherung in diesem Jahr sehr deutlich gesenkt haben. Hat die BaFin da Druck gemacht?
Nein, wir gehören nicht zu den immer wieder bezifferten 20 Lebensversicherern unter intensivierter Aufsicht. Unsere Absenkung der Überschussbeteiligung ist eine der negativen Auswirkungen der Coronakrise. Die direkten Schäden im vergangenen und in diesem Jahr sind das eine. Aber das viel schlimmere Übel ist die Zementierung der Niedrigzinsen für die kommenden Jahre. Wir rechnen jetzt nicht mehr wie zuvor mit einem leichten Anstieg der Zinsen. Die Zinsen können aus unserer Sicht in naher Zukunft nicht steigen, weil dann Staaten mit riesigen Schuldenbergen in die Knie gehen würden. Wir stellen uns deshalb auf dauerhaft niedrige Zinsen ein und gehen darum jetzt lieber einen deutlichen Schritt nach unten in der Überschussbeteiligung. Im ersten Moment wirkt das drastisch, wie viel wir abgesenkt haben. Aber es ist Ausdruck der brutal verschlechterten Rahmenbedingungen.
Geben Sie bei den neuen Produkten in der Lebensversicherung noch 100% Beitragsgarantie?
Wir geben für unsere sicherheitsorientierten Produkte eine Nettobeitragsgarantie, das heißt wir garantieren die eingezahlten Beiträge abzüglich der Kosten. Das sind dann beispielsweise 90% der eingezahlten Beiträge, je nachdem, wie das Produkt ausgestaltet ist. Wir folgen damit aber den Wünschen vieler Kunden nach der Chance auf mehr Rendite. Und Garantien kosten Rendite, weil wir vorsichtiger anlegen müssen, um die Garantie sicher zu erwirtschaften.
Haben Sie noch klassische Garantien in Ihrem aktuellen Produktportfolio beispielsweise in der betrieblichen Altersvorsorge?
Ja, in der betrieblichen Altersvorsorge haben wir noch klassische Garantien. Dort ist der Garantiezins aber eher niedriger als der Höchstrechnungszins von 0,9%.
Wie hoch ist der Anteil klassischer Garantien am Neugeschäft?
Der ist 2020 weiter zurückgegangen. Der Anteil von Produkten mit klassischen Garantien in der privaten Altersvorsorge beträgt 14% des gesamten Neugeschäfts. Der Neugeschäftsanteil der betrieblichen Altersversorgung, die weit überwiegend klassische Garantiebestandteile beinhaltet, beträgt 31%.
Und das können Sie sich auch noch leisten?
Das können wir uns noch leisten. Wir waren in der Vergangenheit auch aufgrund unserer Kapitalstärke einer der Versicherer, die lange zu den klassischen Garantien gestanden haben. Allerdings führt die Zinsentwicklung und das veränderte Kundenverhalten auch bei uns zu einer stärkeren Umschichtung hin zu neuen Garantieformen.
Der Tiefzins setzt den deutschen Lebensversicherern immer stärker zu. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für den Markt und wird die R+V sich an potenziellen Verschiebungen aktiv beteiligen?
Die Spreu wird sich vom Weizen trennen – davon gehe ich aus. Wenn Unternehmen ihr Neugeschäft aufgeben, wird sich das Geschäft neu verteilen, der Markt wird sich verschieben. Altersvorsorge bleibt ein brennendes Thema. Als eine der kapitalstarken Gesellschaften im deutschen Markt sehen wir für uns dabei gute Chancen. Aber weniger durch die Übernahme von maroden Beständen von Unternehmen, sondern über den Ausbau unseres Bestandes. Wir wollen nicht als Konsolidierer agieren, sondern peilen immer höhere Marktanteile im Neugeschäft an. Unser Antritt ist es, organisch zu unseren Konditionen zu wachsen, und nicht die Sünden anderer auszubügeln.
Wie ist Ihr Blick auf 2021? Im vergangenen Jahr sind Ihre Erwartungen – Ende März hatten Sie eine Wachstumsdelle prognostiziert – ja deutlich übertroffen worden.
Wir blicken mit der gleichen Unsicherheit auf 2021, wie Sie das in Ihrer Frage schon für das vergangene Jahr geschildert haben. Wir hatten einen guten Januar, im Februar ist es ein bisschen verhaltener, aber ich wage keine Prognose für das Gesamtjahr. Wir haben insgesamt verhaltener geplant. Wir sind nicht enttäuscht, wenn wir nicht mehr so ein Wachstum erreichen werden wie im vergangenen Jahr.
Die Vorschläge für die erste große Reform von Solvency II liegen jetzt auf dem Tisch und werden in Brüssel verhandelt. Die verschobene Extrapolation der Zinsstrukturkurve ist den deutschen Versicherern ein Dorn im Auge. Wie würde sich die Änderung auf die Solvenzquoten der R+V auswirken?
Das hat negative Auswirkungen, aber es würde uns noch nicht in Gefahrenzonen bringen. Wir können damit leben – allerdings auf einem deutlich reduzierten Niveau. Wenn dann aber noch Stresstests gerechnet werden, dann stoßen auch wir durchaus an Grenzen. Insofern wehren wir uns auch gegen diese Vorschläge, die selbst einen kapitalstarken Versicherer wie uns so stark treffen.
Die R+V ist einer der recht wenigen IFRS-Bilanzierer im deutschen Markt. Die Reform von IFRS 17, die auf 2023 verschoben wurde, ist ein bisschen aus dem Blick geraten. Wie hoch ist der Aufwand dort für Ihre Gruppe?
Das ist ein Thema, das mir erheblichen Ärger verursacht. Wir rechnen mit Kosten nur für uns von rund 90 Mill. Euro, die wir investieren müssen. Wir müssen die Rechnungslegung nach IFRS machen, weil wir in die DZ-Bank-Gruppe integriert sind. Wir haben eine immense Komplexität aus Steuerbilanz, HGB-Bilanz, IFRS-Bilanz und Solvency-Bilanz. Ich ärgere mich über den damit verbundenen hohen Aufwand, denn das kostet uns natürlich auch Ertragskraft.
Sehen Sie noch Chancen für Änderungen?
Es wird wohl noch das eine oder andere diskutiert. Ich halte aber nichts davon, die Einführung von IFRS 17 noch weiter zu verschieben. Das erhöht nur weiter die Kosten für das Projekt. Ich bin mittlerweile eher fatalistisch und sage: Augen zu und durch.
Das Interview führte