Risiko und Haftung außer Kontrolle
Der nun eingetretene Entschädigungsfall Greensill Bank AG i.L. läuft auf vollen Touren. Im Fadenkreuz gegenseitiger Schuldzuweisungen stehen Aufsichtsbehörden, Verbände, Wirtschaftsprüfer, Anwälte, Fondsmanager und Online-Portale für Spareinlagen. Aber auch das Verhalten privater und institutioneller Anleger einschließlich Kämmerer von Kommunen und der skandalumwitterten Immobilienbank Hypo Real Estate (HRE), die wenig risikobewusst agierten, werfen grundsätzliche Fragen auf.
Das bislang erkennbare Schadenspotenzial ist groß genug, um eine grundlegende politische und ökonomische Debatte einer wirkungsvollen dringend erforderlichen zeitadäquaten Neuausrichtung der Aufsichtsarchitektur anzustoßen. Das Greensill-Debakel und deren Folgen werden uns parallel zur Causa Wirecard längere Zeit mit behördlichen Untersuchungen und Reformvorschlägen begleiten. Unstrittig ist, dass die Entschädigung für private Anleger greift und ein tiefes Loch in die Kassen der betroffenen Sicherungsfonds der privaten Banken reißen wird.
Die Abwicklung ist klar vorgegeben: Nach vorsichtigen Schätzungen belaufen sich die durch die Sicherungsfonds abzudeckenden Einlagen bei der abzuwickelnden Greensill Bank AG auf mehr als 3 Mrd. Euro. Hiervon trägt zunächst der gesetzliche Einlagensicherungsfonds private Einlagen bis 100000 EUR je Anleger mit schätzungsweise einem Gesamtvolumen von 1 Mrd. Euro. Die weiteren Lasten von etwa 2 Mrd. Euro hat der freiwillige Einlagensicherungsfonds des Bankenverbandes deutscher Banken (BdB) zu tragen.
Nach aktueller Auskunft beziffert der Bankenverband den Bestand der gesetzlichen Reserven auf rund 3, 5 Mrd. Euro. Angaben über die Rücklagen des freiwilligen Sicherungsfonds liegen nicht vor. Er dürfte sich Insidern zufolge innerhalb der Bandbreite von 5 Mrd. bis 6 Mrd. EUR bewegen. Die neuen Belastungen dürften den privaten Sicherungsfonds für längere Zeit stark strapazieren. Ein Spielraum für Entschädigungsfälle aus Schieflagen weiterer Banken, die durchaus zu erwarten sind, bleibt damit über einen längeren Zeitraum verwehrt.
Zusätzliche Sorge bereitet die EU-Pflichtvorgabe zur Aufstockung der Sicherungsfonds bis Mitte 2024. Um Sicherheit in den Markt der Privatbanken zu bringen, ist deshalb eine rasche kräftige Anhebung der Bestände des Sicherungsfonds zeitnah, zumindest im zweistellig niedrigen Milliardenbereich, erforderlich. Bereits in der Finanzkrise im Jahre 2008 habe ich diese Forderung gestellt.
Die Chance einer sukzessiven Auffüllung der Reserven wurde allerdings über die Jahre leider nicht genutzt. Die nahezu leeren Töpfe nun schnell ad hoc zu befüllen, würde die Erhebung von drastischen zusätzlichen Sonderumlagen von den Mitgliedsbanken verbunden mit weiteren Leistungseinschränkungen bedeuten. Noch besorgniserregender sind strategische Perspektiven. Mit zunehmender Dauer von Negativzinsen im etablierten Bankenumfeld wird deutlich, dass das ursprüngliche Ziel der Einlagensicherung nicht nur auf der Angebots-, sondern auch auf der Nachfrageseite aus dem Lot geraten ist.
Eine tiefgreifende Veränderung im Sparverhalten und in der Marktbearbeitung von Termingeldeinlagen führen derzeit zu einem ungehemmten Wachstum von Zinsplattformen wie beispielsweise Weltsparen und Zinspilot. Das Marketing wird mit der vereinheitlichten EU-Einlagensicherung, die private Einlagen bis 100000 EUR in den EU-Mitgliedstaaten absichert, stark forciert.
Auf dem Prüfstand stehen deshalb Lockvogelangebote mit hohen Einlagenzinsen deren Nutzung unmoralisch erscheint und die in der Summe im Assetbereich zu einer neuen Systemrelevanz führen kann. Nicht nur Online-Finanzportale, sondern gleichfalls traditionelle Banken wie die Deutsche Bank und Hamburger Sparkasse nutzen in ihrem Retailgeschäft mittels Kooperationen die scheinbaren Vorteile von Zinsplattformen, indem sie ihren Kunden diese Anlageform empfehlen und vermitteln. Aus einer ehemals harten Wettbewerbssituation scheinen über Nacht Partner geworden zu sein. Der Sinneswandel erklärt sich damit, dass die Banken das Problem Passivlastigkeit und Überliquidität verbunden mit Negativzinsen hiermit elegant umgehen können.
Dieser Trend hat insgesamt zu einem enormen unkontrollierten Wachstum der Einlagenströme an meist unbekannte ausländische Kleininstitute oder deren ausländische Filialen geführt. Im aktuellen Fall der Greensill Bank hat ein ungebremster Strom von privaten Termingeldanlagen zu einer Aufblähung der Bilanz geführt, der sich nun als Katalysator der Schieflage erweist.
In der Summe hat sich der vermeintliche Fortschritt eines europaweit einheitlich geregelten Anlegerschutzes durch die Marktveränderung zu einem Missbrauch der staatlichen Sicherung verkehrt.
Auf die neuen Herausforderungen haben die Sicherungsfonds bislang noch keine Antwort gefunden. Als Reaktion bietet sich an, Zinsplattformen unter aufsichtsrechtliche Kontrolle und Sanktionen zu stellen einschließlich einer Deckelung und linearer Begrenzung des jährlichen Wachstums der Einlagen.
Her mit dem Nationalfonds
Parallel hierzu ist der Weg einer Einbindung von Zinsplattformen unter das Dach von Bankenlizenzen mit der Folge von zusätzlichen Abgaben risikoadjustierter Prämien zu verfolgen. Am Werkzeugkasten Einlagensicherungsfonds selbst sind entsprechend große Strukturveränderungen vorzunehmen. Dies betrifft in erster Linie das Dauerthema Konzentration. So sollte ohne Tabus das Potenzial an Fusionsmöglichkeiten der vorhandenen Sicherungsfonds der verschiedenen Bankengruppen in Deutschland ausgelotet werden. Es gilt parallel zu der in Planung stehenden Europäischen Einlagensicherung (Edis) einen effizient und gut dotierten bankensäulenübergreifenden großen Nationalsicherungsfonds einzurichten.
In der globalen Betrachtung erweist sich weiter die wenig koordinierte und zeitraubende Aufgabenteilung von Prüf- und Bankenverbänden der BaFin und Bundesbank von Nachteil. Das führt nicht nur nach Wirecard zur Frage nach einer grundlegenden Reform der Finanzaufsicht.
Ergänzend hierzu sollte eine Neustrukturierung und Bündelung der Aufsichtsgremien mit klarer Kompetenz erfolgen. Die jüngsten Sicherungsfälle haben gezeigt, dass ein hoher Abstimmungsbedarf zwischen den Institutionen besteht. Dies kostet wertvolle Zeit und führt zu ineffizienten Kompetenzauslegungen. Auch hier bietet sich die Schaffung einer übergeordneten Zentralaufsicht mit klaren Kompetenzen an.
Vorab zu den strategischen Herausforderungen sollten rasch Feinjustierungen an der Finanzierung der Einlagensicherungsfonds erfolgen. Ein einheitlicher Umlagesatz berücksichtigt unzureichend die unterschiedlichen Geschäftsmodelle der Mitglieder. Hier empfiehlt sich ein Übergang zu flexibler Beitragsgestaltung nach Rating und individuellen Zahlungsströmen. Auch gilt es Eintrittshürden zu überarbeiten.
Fazit: Wenn der jetzigen Entwicklung kein Einhalt geboten wird, könnte durch weiteres ungehemmtes Wachstum hochgepreister Termineinlagen nach Greensill der Markt außer Kontrolle geraten. Allerdings ist es ein schmaler Pfad, der zwischen Erbhöfen, Marktliberalismus und einengender Regulierung durch Verbote zu begehen ist.