Über den Wolken
Welches Lied dem Credit-Suisse-Präsidenten António Horta-Osório durch den Kopf ging, als er am 1. Dezember in Zürich das Flugzeug in Richtung des heimatlichen Iberiens bestieg, wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben. Vielleicht war es tatsächlich Reinhard Meys Klassiker. Obschon, der Song ist ja aus der Perspektive eines Menschen geschrieben, der die Wolkenformationen nur von unten kennt. Wie auch immer. Das Lied ging ab 1974 um die Welt. Zu einer Zeit, als Portugal dank der Nelkenrevolution gerade dabei war, das Träumen neu zu erlernen. Zu einer Zeit auch, als der kleine António kurz vor dem Übertritt ins Gymnasium stand, um später den Weg in die globale Hochfinanz zu schaffen. Die Idee von der „grenzenlosen Freiheit“, wie sie das unvergessene Chanson preist, ist für die meisten Menschen nach zwei Jahren Pandemie zu einer ziemlich entrückten Vorstellung geworden. Im globalisierten Bankermilieu scheint sie aber so lebendig zu sein wie damals in den 1970er Jahren, als die Demokratisierung des Himmels gerade ihren Anfang nahm.
Ob der 57-jährige Credit-Suisse-Präsident bei seinem vorzeitigen Abflug aus der Schweiz nur das britische und das schweizerische Quarantäneregime verwechselt hatte, wie er seinen Kollegen im Verwaltungsrat ein paar Tage später auf einer Sitzung in New York erklärt haben soll, ist eigentlich belanglos. Auf das Verständnis seiner Kollegen für die zahllosen Zwänge im Leben eines viel beschäftigten Top-Managers kann sich Horta-Osório auf jeden Fall verlassen. Nur hätte er sich bei der Verletzung eines Gesetzes, das für alle Schweizer gilt, nicht so plump erwischen lassen dürfen. Aber auch diesen Fauxpas, mit dem sich der Banker bei seinen eigenen Mitarbeitenden ja nicht eben als leuchtendes Vorbild für regelkonformes Verhalten outet, wird man ihm unter seinesgleichen rasch verzeihen. Das ist nun mal einfach „Usanz“, wie es in der Geschäftssprache schlicht und treffend heißt.
Beispiele dafür gibt es selbst in der kleinen Schweiz in genügend großer Zahl. Für den neuen Raiffeisen-Präsidenten Thomas Müller war dessen Vorleben als Finanzchef der tief in den Cum-ex-Skandal verwickelten Bank Sarasin ebenso wenig ein Hindernis für die Wahl, wie die gravierenden Versäumnisse der niederländischen Großbank ING in der Geldwäsche-Abwehr eine zu große Hypothek für die Berufung des damaligen ING-Chefs Ralph Hamers an die Spitze der UBS gewesen waren.
Die Liste an unverwüstlichen Bankmanagern lässt sich verlängern, wenn man sie auf die ganze Welt ausdehnt. Jamie Dimon lenkt die größte US-Bank J.P. Morgan Chase seit 2005 und sitzt fest im Sattel. 2020 wischte er den scheuen Versuch eines Aktionärs, die grassierende Lohn- und Bonuskultur an der Wall Street im Blick auf die mit Steuergeldern finanzierte Antikrisenpolitik der Regierung etwas einzugrenzen, mit dem Satz vom Tisch: „Wir haben einen freien Markt und darüber sollten wir uns alle freuen.“ Dimon kassierte 2020 ein Gehalt von 31,5 Mill. Dollar. Er sagt: „Wir brauchen diese hohen Löhne, um das beste Team im Feld zu halten.“ Als 2012 der Großverlust eines J.P.-Morgan-Traders in London erstmals ruchbar wurde, qualifizierte Dimon das Problem als „Sturm in der Teetasse“. Als bekannt wurde, dass die fehlgeleiteten Geschäfte des „London Whale“ die Bank um 6 Mrd. Dollar erleichtert hatten, lenkte Dimon zu einer kurzfristigen Halbierung seines Riesengehalts ein. Die grenzenlose Freiheit hat er aber offensichtlich schnell zurückgewonnen.
Auch Goldman-Sachs-Chef David Solomon musste 2020 auf 10 Mill. Dollar von seinem 28-Mill.-Dollar-Gehalt verzichten, nachdem die Bank vor einem US-Gericht zugeben musste, Geschäfte mit dem hochkorrupten Staatsfonds 1MDB des früheren malaysischen Staatspräsidenten Najib Razak mit Hilfe von Bestechungszahlungen in Höhe von mehr als 1 Mrd. Dollar erschlichen zu haben. Solomon war zum Zeitpunkt der kriminellen Vorgänge Chef der Investmentbank, welche die Geschäfte verantwortet hatte. Trotzdem konnte er 2018 an die Spitze der US-Großbank aufsteigen.
Bankmanager mit viel Erfahrung und blütenweißen Westen sind wohl kaum zu finden. Aktionäre sind offenbar bereit, das widerspruchslos hinzunehmen. Auf den ersten Blick scheint die Passivität der Eigentümer eine gewisse Logik zu haben. Schließlich sind dreiste Manager oft erfolgreicher als brave – wenigstens solange sie nicht über den Wolken schweben. Die Credit-Suisse-Aktionäre haben leider etwas spät gelernt, dass sie ihren Managern die Grenzen der Freiheit erklären sollten, bevor diese das Flugzeug besteigen. (Börsen-Zeitung, 16.12.2021)