Im InterviewJulia Merkel

„Unsere Belegschaft ist ein Spiegel unserer Gesellschaft“

Dem traditionellen Bild der unattraktiven Versicherungsbranche tritt Julia Merkel, Personalvorständin der R+V Versicherung, entschieden entgegen. Die Arbeitsplätze gelten als modern und sicher. Im Genossenschaftswesen, zu dem die R+V mit Sitz in Wiesbaden gehört, werden Werte wie Solidität und Solidarität groß geschrieben.

„Unsere Belegschaft ist ein Spiegel unserer Gesellschaft“

IM INTERVIEW: JULIA MERKEL

„Unsere Belegschaft ist ein Spiegel unserer Gesellschaft“

Personalvorständin von R+V will War for Talents mit sicheren Arbeitsplätzen, flexiblen Arbeitsbedingungen und zukunftsgerichteten Aufgaben gewinnen

Dem traditionellen Bild der unattraktiven Versicherungsbranche tritt Julia Merkel, Personalvorständin der R+V Versicherung, entschieden entgegen. Die Arbeitsplätze gelten als modern und sicher. Im Genossenschaftswesen, zu dem die R+V mit Sitz in Wiesbaden gehört, werden Werte wie Solidität und Solidarität groß geschrieben.

Frau Merkel, Versicherer gelten traditionell als nicht besonders attraktiver Arbeitgeber, gerade für Berufsanfänger. Hat sich dies in den vergangenen Jahren geändert? Oder gibt es Anzeichen, dass sich das in Zukunft ändern könnte?

Versicherer sind in den vergangenen Jahren als Arbeitgeber attraktiver geworden. Das liegt zum einen an den Jobs selbst. Versicherungsarbeit erlaubt und erfordert im Rahmen der Digitalisierung die Einführung neuer Technologien wie unter anderem auch künstliche Intelligenz. Dadurch gibt es inzwischen eine Vielzahl zukunftsgerichteter Jobs wie im Bereich der Datengewinnung und -analyse. Denn wir als Versicherer haben viele Daten, aus denen Hypothesen abgeleitet werden können. Im Innendienst punkten wir durch flexiblere Arbeitszeiten und -orte, moderne und technisch gut ausgestattete Arbeitsplätze, eine werteorientierte Führungs- und Zusammenarbeitskultur und nicht zuletzt interessante Inhalte. All das reizt viele Menschen, sich bei einem Versicherer zu bewerben.

Und was spricht noch für Versicherer als Arbeitgeber?

Zwei gesellschaftliche Entwicklungen: Die Alterung der Gesellschaft führt zu einem steigenden Bedarf an finanzierbaren und individuellen Vorsorgelösungen bis hin zur Pflegeversicherung. Diese Lösungen wollen viele mitgestalten. Außerdem sehnen sich in Zeiten multipler Krisen immer mehr Menschen nach einem stabilen Arbeitsumfeld. Das bietet die Versicherungswirtschaft. Nach einer kürzlichen Umfrage des Versicherungsverbandes GDV können sich 41% der 18- bis 30-Jährigen vorstellen, grundsätzlich in der Versicherungswirtschaft tätig zu sein.

Was macht die R+V für Bewerber besonders attraktiv im Vergleich zu anderen Unternehmen/Versicherern?

Da gibt es zwei Kernthemen: Zum einen gehören wir der genossenschaftlichen Finanzgruppe an und haben ein 200 Jahre altes Wertegerüst, dessen Kern ein Zitat von Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist: Was einer nicht alleine schafft, das schaffen viele. Das zieht sich durch unsere Arbeits- und unsere Führungskultur. Gemeinschaft, Solidität, Solidarität, gemeinsame Perspektiven entwickeln, dafür stehen wir. Den Gemeinschaftssinn nach unserem Motto „Du bist nicht allein“ schätzen viele Mitarbeiter. Das sieht man auch an unserer niedrigen Fluktuationsquote…

…wie hoch ist die?

Im vergangenen Jahr knapp 5,0%, davon rund 2% altersbedingt. In unserer Branche hat der Innendienst eine Fluktuationsquote von 6,1%.

Wie viele offene Stellen haben Sie im Moment?

Wir haben rund 900 ausgeschriebene Stellen, davon sind rund ein Viertel Ersatzbesetzungen, ein Viertel neue Positionen und 50% resultieren aus internen Wechseln und Weiterentwicklungen.

Zur Person

Julia Merkel (Jahrgang 1965) ist im Vorstand der R+V Versicherung AG zuständig für Personal und Konzerndienstleistungen. Außerdem ist sie Arbeitsdirektorin der R+V Gruppe. Die Betriebswirtin begann im Februar 2015 in Wiesbaden als Generalbevollmächtigte und zog Anfang 2016 in den Vorstand ein.

Gibt es Projektionen, wie viele Mitarbeiter in den kommenden Jahren altershalber ausscheiden werden? Sollen die ersetzt werden?

Wir haben vor etwa drei Jahren intern eine umfangreiche Demografiestudie erstellt, aus der wir ersehen können, wie viele Mitarbeiter in welchen Rollen in den kommenden Jahren ausscheiden werden. Wir planen nachzubesetzen. Aber die Rollen verändern sich…

…das heißt konkret…

…wir werden mehr agil arbeiten. Gerade jetzt überführen wir unsere etwa 1.800 IT-Mitarbeiter in agiles Arbeiten…

….agiles Arbeiten bedeutet was?

…Teams werden multidisziplinär besetzt, also Sparte, IT und Support-Funktionen bilden einen ART (Agile Release Train), der dann die Produkte end-to-end entwickelt, programmiert, testet und bis zum Kunden bringt. Weniger arbeitsteilig, mehr gemeinschaftlich arbeiten, aber auch Verantwortung übernehmen ist der Leitgedanke.

Haben Sie spezielle Recruiting-Programme aufgesetzt?

Ja. Bei uns gibt es seit mehr als zehn Jahren das Programm Mitarbeiter werben Mitarbeiter. 2022 haben wir auf diesem Weg 2.700 Empfehlungen bekommen. Unsere im letzten Jahr neu konzeptionierte Karriereseite hat unmittelbar nach ihrer Einführung zu einem Anstieg der Bewerberzahlen um 23% geführt. Die deutlich erhöhte Präsenz und Informationstiefe auf Social Media ließ die Bewerberzahl im Innendienst um 13% ansteigen, bei den Nachwuchskräften, also Azubis, dual Studierenden und Trainees sogar um 66%.

In welchen Bereichen suchen Sie in erster Linie neue Mitarbeiter?

IT ist ein großes Thema. Außerdem Finanzmathematiker, wie Aktuare und der angestellte Außendienst, also Berater in einer Volks- und Raiffeisenbank.

Wie stellen Sie sicher, dass Sie Fachkräfte in ausreichender Zahl und Qualität für die R+V gewinnen können? Welche Kanäle nutzen Sie dafür?

Unsere Stellen schreiben wir auch über Linkedin und Xing aus, suchen dort aber auch selbst aktiv nach geeigneten Mitarbeitern. Wir zeigen dort aber auch, welche Themen uns beschäftigen und wie die Gesamtentwicklung der Branche ist. Wir sprechen aber auch zunehmend Zielgruppen über Instagram, Facebook, Snapchat oder Tiktok an. Außerdem legen wir großen Wert auf gute Karriereseiten für Interessenten, die gezielt nach solchen Informationen suchen.

Wie läuft ein Bewerbungsprozess heute bei Ihnen ab?

Im Prinzip komplett online über ein Bewerberportal, bei dem man auch Dokumente hochladen kann. Papierbewerbungen digitalisieren wir in unserem Bewerberportal und vernichten die Unterlagen anschließend datenschutzkonform.

Wie viele Bewerbungen bekommen Sie im Jahr?

Im Innendienst rund 22.000. Eine erste Vorauswahl treffen wir automatisiert über ein Matching-Programm, das prüft, inwieweit die in den Stellenausschreibungen geforderten Skills in den Bewerbungen vorhanden sind, und sie dann den einzelnen Stellen zuordnet. Die anschließende Vorauswahl nehmen dann die Fachabteilungen zusammen mit der Personalabteilung vor. Große Anstrengungen haben wir bei der Optimierung des Recruiting-Prozesses unternommen…

…und der Erfolg ist messbar?

Ja, die time to hire, also die Zeit von
der Bewerbung bis zur Einstellung,
liegt bei uns im Schnitt bei 35 Tagen. Im Branchendurchschnitt sind es 52 Tage. Vom Erstkontakt bis zu unserer ersten Rückmeldung, neudeutsch time to action, sind es durchschnittlich 1 Tag und time to come, also vom Erstkontakt bis zum ersten Arbeitstag, im Durchschnitt 87 Tage.

Wie viele Bewerbungsgespräche führen Sie im Jahr?

Etwa 6.000. Die Erstgespräche sind meist digital, die Zweit- und gegebenenfalls Drittgespräche dann bei uns vor Ort. Denn die Bewerber wollen ihre zukünftigen Arbeitsplätze und Kollegen kennen lernen und wir natürlich gerne die potenziellen zukünftigen Kolleginnen und Kollegen.   

Und wie viele Bewerber stellen Sie dann ein, zum Beispiel im Jahr 2022?

Im letzten Jahr hatten wir 1.050 Einstellungen.

Welche Bedeutung hat Diversität (Geschlecht, Herkunft, körperliche Beeinträchtigung oder sexuelle Orientierung) bei der Personalsuche beziehungsweise bei der Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft?

Diversität gewinnt maßgeblich an Relevanz und ist für uns als R+V Versicherung ein Grundanliegen. Die Zusammensetzung unserer Belegschaft soll die Gesellschaft und auch unsere Kundschaft repräsentieren. Wir sind davon überzeugt, dass heterogen zusammengesetzte Teams kreativere Lösungen erarbeiten können, weil sie unterschiedliche Perspektiven abbilden.

Haben Sie genügend Bewerber, die diesen Grundsätzen entsprechen?

Ja, unsere Belegschaft ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Das betrifft Männer und Frauen, Altersgruppen, Inklusion, LGBTQ, Migrationshintergrund. Kernthema im Auswahlprozess sind und bleiben die Skills.

Gibt es bei Ihnen auch Förderungen für einzelne Gruppen, zum Beispiel Frauen, damit sie auch in Führungspositionen kommen?

Seit 2015 gibt es bei uns ein Karrierenetzwerk der Führungsfrauen und wir haben das Programm Frauen in Führung, um gezielt noch mehr Frauen in Führung zu bringen. Im Vorstand der R+V Gruppe haben wir aktuell eine Frauenquote von 25%. Über die erste und zweite Führungsebene liegt die Frauenquote bei rund 20% und auf der dritten Führungsebene bei knapp 30%.

Wie weit sind Sie mit der Umsetzung des neuen Arbeitsmodells „New Normal“, das 2021 eingeführt wurde?

Seit 2021 gibt’s unterschiedliche Arbeitsmodelle. Jedes Team hat sein eigenes Arbeitsmodell gemeinsam beschlossen.

Haben sich da Favoriten rauskristallisiert?

Am häufigsten ist das Balance-Modell, bei dem jeder Mitarbeiter zwei bis drei Tage von zu Hause arbeiten kann. Dabei haben die Teams die jeweiligen Rollen geprüft, also: Wie hoch ist der Anteil Einzelarbeit, die man besser zu Hause erledigen kann? Und wie hoch ist der Anteil an kreativer Arbeit, die man am besten gemeinschaftlich im Büro macht?

Gibt es bestimmte Tätigkeiten, die sich besonders gut fürs Homeoffice eignen?

Zum Beispiel Schadenssachbearbeitung, Buchhaltung, Inkasso, Gutachten schreiben, juristische Prüfungen vornehmen. Dagegen erfordern entwickelnde Rollen oder Weiterbildung häufiger Präsenz. Und der Außendienst natürlich sowieso mit dem direkten Kundenkontakt.

Seit wann werden die neuen Arbeitsmodelle bei Ihnen gelebt?

Seit 2022 werden sie bei uns in allen Teams ausprobiert. Jetzt gibt’s im sogenannten Puls-Check einen Rückblick, was funktioniert, was funktioniert nicht, was sind die Bedürfnisse des Unter­nehmens, des Teams und des Einzelnen und wie bringt man das am besten zusammen?

Ist dieser Puls-Check standardisiert, so dass sich Aussagen für das Gesamtunternehmen treffen lassen?

Ja, es gibt zehn standardisierte Fragenkomplexe, die digital abgefragt und dann gemeinsam besprochen werden. Themen sind die Produktivität am Arbeitsplatz, die zukunftsfähige Aufstellung des Unternehmens bis hin zur Frage, ob ich meinen Arbeitgeber weiterempfehlen würde.

Und was sind die Ergebnisse?

85% aller Innendienstmitarbeiter stimmen der Aussage zu, dass sie so geführt werden, dass sie effektiv von zu Hause aus oder einem anderen Ort als ihrem ursprünglichen Arbeitsplatz arbeiten können. Eine neuere Entwicklung ist, dass immer mehr Teams Teamtage oder Teamwochen einführen, zu denen alle Mitglieder im Büro sind.

Was bedeutet das für die Büroräume?

Es braucht weniger Einzelschreibtische, aber wesentlich mehr Besprechungsräume und Zonen, auf denen man kreativ ist, Workshops durchführt und mehr Kaffeeecken, in denen man sich informell trifft und austauscht. Auch die Betriebsgastronomie wird wieder deutlich mehr in Anspruch genommen. Inzwischen teilen sich zehn Mitarbeiter sechs Arbeitsplätze.

Da passen ja dann die alten Grundrisse nicht mehr…

Alle Standorte werden komplett umgebaut. Die Hälfte haben wir schon geschafft, so dass die Hälfte unserer rund 7.000 Mitarbeiter in Wiesbaden schon in ihren sogenannten Heimathäfen sind. Dort sitzen sie im Free Seating mit ihrer Abteilung. Die andere Hälfte inklusive Außendienst kommt 2024 dran. Die Büros wurden größtenteils neu ausgestattet, zum Beispiel mit höhenverstellbaren Tischen und verbesserter Technik für die Zuschaltung von Kolleginnen und Kollegen.

Da haben die Teams ein Mitspracherecht?

Ja, sie können aus Büromodulen wählen. Also: Welche Kaffeeecke? Ein Besprechungsraum mehr? Das wird dann im Team gemeinsam beschlossen. Gemeinsam im Team werden auch die Regeln der Zusammenarbeit festgelegt: Wofür treffen wir uns? Wann sind wir alle im Büro? Was machen wir hybrid? Wo sind wir alle digital? Wer bereitet was vor? Der Organisations- und Abspracheaufwand ist in den neuen Arbeitsmodellen deutlich höher. Die Teams müssen sich auch einigen, wie Absprachen verbindlich gelebt werden.

Was bedeutet das für die Mitarbeiterführung?

Die erfordert deutlich mehr Zeit – für Terminabsprachen, für informelle Gespräche und und und…

Brauchen Sie als R+V weniger Gebäude?

Viele Gebäude an unserem Hauptstandort in Wiesbaden gehören uns. Zusätzlich gemietete Standorte in Wiesbaden-Erbenheim haben wir in den vergangenen zwei Jahren aufgegeben, weil wir uns auf die näher zusammenliegenden Gebäude rund um den Raiffeisenplatz konzentrieren wollen. Unser Flächenbedarf hat um rund 30% abgenommen. Aber die Anforderungen an Flächen verändern sich deutlich. So bauen wir gerade an unserem zentralen Standort ein neues Gebäude, das den neuen gerade auch technischen und gestalterischen Anforderungen Rechnung trägt.

Die Fragen stellte Thomas List.

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