IM INTERVIEW: ANDREAS LINDNER

"Wir haben bewusst keinen Nischenansatz gewählt"

Der Chefanleger der Allianz Leben über seine Auswahlkriterien für ESG-Anlagen, Grauzonen bei Infrastruktur und die Zweifel der US-Regierung am Klimawandel

"Wir haben bewusst keinen Nischenansatz gewählt"

– Herr Lindner, nachhaltige Kapitalanlagen waren in der Vergangenheit immer mal wieder gefragt. Meist nur so lange, bis sich die Lage an den Märkten verschlechterte, dann wurde darüber kaum noch gesprochen. Warum setzt die Allianz Leben nun darauf, und warum ist das Thema mehr als ein Marketinginstrument?Man muss bei nachhaltigen Anlagen genau schauen, ob nur ein Produkt unter dem Label ESG, das steht für Environment, also Umwelt, Soziales und Governance, angeboten wird oder ob mehr dahintersteckt. Der Trend ist eindeutig, auch wenn die tagesaktuelle Volatilität durch andere Krisen manchmal davon ablenkt. Wir verfolgen das Thema nicht nur auf der Kapitalanlageseite, sondern implementieren es seit einem Jahrzehnt im gesamten Unternehmen. Das beginnt mit dem CO2-Ausstoß, den wir in zehn Jahren pro Mitarbeiter fast halbiert haben. Nachhaltigkeit ist für uns kein Werbethema, weil es dafür zu wichtig ist. Wir wollen Verantwortung übernehmen, und die großen Kapitalsammelstellen haben den Hebel, um ein Umdenken zu bewirken.- Welche Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien legen Sie an?Wenn Sie fünf Personen nach einer Definition von ESG fragen, erhalten Sie wahrscheinlich fünf unterschiedliche Antworten. Das liegt zum einen daran, dass das Thema relativ neu ist und sich erst entwickelt. Es gibt keine Industriestandards, nur unterschiedliche Ideen, wie ESG definiert wird. Das geht in ethische und moralische Fragestellungen hinein. Gerade als global aufgestellter Konzern merken wir aber, dass es je nach Land und Thema unterschiedliche Sichtweisen gibt. Atomstrom etwa ist in Deutschland ein sehr emotionales Thema. Wir haben uns in Deutschland als Gesellschaft dagegen entschieden, weil wir die Risiken als zu groß empfinden. In Frankreich versteht man die Diskussion dagegen gar nicht.- Eine wertorientierte Auswahl kommt also nicht in Frage?Wir haben uns gegen ein werteorientiertes Konzept entschieden und beschäftigen uns vielmehr mit den Problemstellungen dahinter. Bei Atomstrom geht es uns also weniger um die Frage ja oder nein, sondern darum, wie Unternehmen zum Beispiel mit der Endlagerung umgehen. Das ist in Deutschland und Frankreich das gleiche Problem. In dieser Hinsicht steht Umwelt für das ökologische Selbstverständnis eines Unternehmens und wie glaubwürdig es dabei ist.- Wie grenzen Sie weiter ab?Wir haben bewusst keinen Nischenansatz gewählt und etwa nur eine grüne Police auf den Markt gebracht. Wir haben bei der Allianz Leben und Allianz Private Kranken 280 Mrd. Euro Anlagen und wollen ein umfassendes Screening, das es uns ermöglicht, diese Anlagen mit Blick auf Nachhaltigkeit auf alle Risiken und Chancen abzuklopfen. Dazu gehört auch, wie Unternehmen mit ihrer sozialen Verantwortung umgehen und wie die Organisation aufgestellt ist. Schafft es ein Unternehmen, Maßnahmen zu implementieren, die verhindern, dass nicht akzeptable Dinge passieren? Korruption etwa. Wir können nicht immer verhindern, dass wir in ein Unternehmen investieren, in dem es Korruption gibt. Aber wir können prüfen, ob wirksame Mechanismen implementiert sind, die das Thema adressieren und das Risiko minimieren.- Wie stellen Sie das sicher? Glaubwürdigkeit ist schlecht anhand von Zahlen prüfbar.Das Problem besteht auf zwei Ebenen. Wir müssen es schaffen, dass unsere Anforderungen bezüglich ESG-Kriterien eingehalten werden. Und der Kunde muss darauf vertrauen, dass wir als Allianz das Thema auch ernst meinen.- Bleiben wir bei den Kriterien.Wir arbeiten zum einen nur mit Assetmanagern zusammen, die die UN-Prinzipien für verantwortliches Investieren unterzeichnet haben. Das ist das Mindestkriterium, weil damit auch gewisse Veröffentlichungspflichten verbunden sind. Im zweiten Schritt identifizieren wir nicht akzeptable Anlagen. Hier gibt es für einige Anlagen eine rote Linie, die wir nicht überschreiten wollen. Hersteller von Streubombenmunition oder Atomwaffen sind für uns beispielsweise nicht investierbar.- Darunter fällt auch Kohle?Ja, vor einem Jahr kam das große Thema Kohle dazu. Für uns ist dieser Energieträger extrem schädlich und gefährdet die Klimaschutzziele und damit auch unser eigenes Geschäftsmodell. Der Kohleeinsatz beschleunigt den Klimawandel und macht damit die Risiken, die wir versichern, schwerer einschätzbar. Zudem wird die Wirtschaftlichkeit der Verstromung von Kohle angesichts des globalen Ausbaus der erneuerbaren Energien weiter abnehmen. Aus diesem Grund investieren wir nicht mehr in Unternehmen, die Energie aus Kohle herstellen oder Kohle abbauen.- Damit ist das Universum eingeschränkt, aber noch immer sehr groß.Wir unterscheiden daher weiter nach handelbaren und nicht handelbaren Anlagen, wie Immobilien oder Infrastrukturinvestitionen. Der größere Teil, mit rund 80 %, sind börsengehandelte Kapitalanlagen.- Wie gehen Sie bei nicht handelbaren Anlagen vor?Das Thema war für uns relativ neu. Wir haben einen ESG-Kriterienkatalog entwickelt. Dabei haben wir auch Nichtregierungsorganisationen wie Transparency International, Germanwatch und den WWF hinzugezogen. Die NGOs haben Erfahrungen, die wir nicht hatten. Wenn wir uns heute ein Investment anschauen, ist die Nachhaltigkeit eine wichtige Risikodimension, neben der Analyse ökonomischer Risiken.- Das heißt, Sie müssen die beiden Seiten gegeneinander abwägen?Wir bewegen uns dabei meistens in Grauzonen. Wenn wir in eine Gaspipeline investieren, die durch ein Naturschutzgebiet verläuft, dann ist das kein Ausschlusskriterium per se. Wir schauen erstmals, wie mit dem Thema umgegangen wird. Welche Ausgleichsmaßnahmen sind vorgesehen, wie wird die Bevölkerung vor Ort eingebunden, wie wird mit der zu schützenden Natur umgegangen, um so etwas verträglich zu gestalten? Das prüfen wir und wenn es akzeptabel ist, investieren wir.- Warum sind Infrastrukturinvestitionen für Sie in diesem Zusammenhang so wichtig?Unsere Stärke als Lebens- und Krankenversicherer liegt aufgrund jahrzehntelanger Kundenbeziehungen bei langfristigen Investitionen. Zugleich sind wir in der Lage, sehr große Volumina zu investieren. Der dritte Vorteil: Infrastrukturanlagen sind oft sehr defensiv im Risiko-Return-Profil und passen damit sehr gut zu unseren Leistungsverpflichtungen. Wir haben etwa für 75 Jahre Parkuhrlizenzen in Chicago erworben. Es ist genau reguliert, was man für einen Parkplatz verlangen darf. Ein langfristiges und attraktives Investment. Eher defensiv, mit einem geringen Betreiberrisiko.- Wie unterscheidet sich die Entscheidungsfindung bei handelbaren Assets?In diesem Block haben wir tausende Investments in Aktien und Staats- und Unternehmensanleihen. Allein die Menge erfordert einen anderen Ansatz, weil keine Einzelfallprüfung möglich ist. Wir haben daher mit den drei NGOs ein Projekt aufgesetzt, um zu schauen, wer uns eine Datengrundlage zur Verfügung stellen kann, und sind darüber mit dem Anbieter MSCI ins Gespräch gekommen. Das Unternehmen hat einen Nachhaltigkeitsbereich, der seit vielen Jahren über große Erfahrungen bei handelbaren Kapitalanlagen verfügt und diese nach ESG-Kriterien screent. Das war für uns passend, weil uns das Konzept gefiel und MSCI im Unterschied zu anderen Anbietern ein weltweites Anlageuniversum abdeckt.- Wie ist das Konzept?Dabei werden circa tausend Datenpunkte analysiert und auf 37 Kernkriterien verdichtet, die den Bereichen Umwelt, Soziales und Governance zugeordnet sind. Darauf werden die Unternehmen von fast 200 Analysten weltweit durchleuchtet. Diese Daten werden dann bei uns entsprechend unserem ESG-Ansatz auf die Kapitalanlagen angewandt.- Sind die drei ESG-Felder dabei immer gleich gewichtet?Nein. Anders als in der verarbeitenden Industrie spielt zum Beispiel für die Allianz als Finanzdienstleister die Arbeitssicherheit oder der CO2-Ausstoß in der Produktion keine große Rolle. Bei uns ist der Hauptpunkt Soziales. Sichern wir biometrische Risiken ordentlich ab? Bieten wir wirklich das an, was der Kunde an Versicherungsschutz erwartet? Auch der Punkt Governance ist bei einem Finanzdienstleister spätestens seit der Finanzkrise wichtig. Finanzdienstleister können destabilisierend auf die Weltwirtschaft wirken, wenn Kontrollmechanismen versagen, daher ist das bei Banken und Versicherern ein Schwerpunkt. Aus all diesen Kriterien wird ein Score erstellt, an dem wir uns orientieren.- Wie haben sich Ihre Bewertungsmaßstäbe bei Staatsanleihen verändert? Jüngst hat Frankreich den ersten langlaufenden Green Bond emittiert. Ist das eine potenzielle Anlage, oder greifen diese Bonds aus Ihrer Sicht zu kurz?Wenn ich in zwei oder drei Green Bonds investiere, ändere ich nichts. Uns ist zum Beispiel auch wichtig, wie Staaten mit Menschenrechten umgehen. Es geht uns um die gesamtheitliche Sicht und nicht darum, wie es einem Land gelingt, einen kleinen Teil herauszugreifen und in einen Bond zu packen.- Das Thema ESG hat bei der Allianz auch mit dem Klimaabkommen von Paris 2015 an Fahrt gewonnen. Die neue US-Administration hat geäußert, dass sie nicht an den Klimawandel glaubt. Was bedeutet es für Ihre Strategie und das Thema ESG insgesamt, wenn eine der größten Volkswirtschaften am Klimawandel zweifelt?Die politische Situation in den USA will ich nicht kommentieren. Aber es gibt unserer Ansicht nach gesicherte Gründe, was für den Klimawandel ursächlich ist. Und ein Punkt sind Treibhausgase, und die entstehen maßgeblich durch fossile Energieträger und vor allem durch Kohle. Das ist ein breiter Konsens, weltweit. Und weil Kohle kein nachhaltiger Energieträger ist, macht es keinen Sinn, darin zu investieren. Immer mehr Investoren nähern sich dieser Sichtweise an, und Kohle wird damit immer weiter aus dem Energiemix verschwinden. Der Klimawandel ist gegeben, und deswegen gibt es keine Abkehr bei uns.- Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Entscheidung, so zu investieren, Einfluss auf Unternehmen hat?Ja. Immer mehr große Vermögensverwalter erachten es als notwendig, aus Kohle auszusteigen, was zunehmend zu einem Umdenken bei den Energieversorgern führt. Ganz konkret: Die Energiebranche baut ihr gesamtes Geschäftsmodell um. Die Unternehmen reagieren.- Sprechen Sie diese ESG-Themen und eventuellen Nachholbedarf auch gezielt beim Management der Emittenten an?Wir geben unseren Assetmanagern, das sind überwiegend die Allianz GI und Pimco, neben den bereits erwähnten Anlagen, die wir konzernweit konsequent ausschließen, Zielwerte im Sinne von Mindest-Scores an die Hand. Sie können auch in Unternehmen investieren, die darunterliegen, aber nur unter zwei Voraussetzungen: Wir wollen regelmäßig wissen, welche Gründe für das Unternehmen sprechen. Und der zweite Punkt: Der Portfoliomanager ist aufgerufen, mit dem Unternehmen in Dialog zu treten und mit ihm zu diskutieren, was es machen kann, um das Scoring zu verbessern.- Es gibt Wettbewerber, die damit werben, dass bei ESG-Anlagen im Schnitt höhere Renditen möglich sind als bei einer konventionellen Auswahl. Ist das bei Ihnen auch so, und können Sie den Unterschied quantifizieren?Eine Quantifizierung ist sehr schwierig. Wir sehen in der Breite keinen Widerspruch zwischen Rendite und Nachhaltigkeit. Aber wir würden nicht so weit gehen zu sagen: Wenn die Kriterien angewendet werden, wird die Rendite besser. Der Fokus auf die 37 Kernkriterien führt dazu, dass wir Risiken identifizieren, die wir beim klassischen Prozess nicht auf dem Radar haben. Bei uns ist es allein wegen unseres langfristigen Anlagehorizonts elementar, dass das Geld unserer Kunden in Geschäftsmodelle fließt, die nachhaltig und länger als drei oder vier Jahren rentabel sind. Daher ist es für uns ein Gewinn, wenn wir bisher unbeachtete Risiken ausschließen können.—-Das Interview führte Isabel Gomez.