Der Schattenmann

Die Idee für die „Cloud“ entstand nicht in einer Garage, wie in der Technologiebranche üblich. Sie entstand in einem Wohnzimmer, dem von Amazon-Gründer Jeff Bezos. Bezos hatte seine engsten Mitarbeiter im Jahr 2003 zu einem Brainstorming eingeladen....

Der Schattenmann

Von Norbert Kuls, New York

Die Idee für die „Cloud“ entstand nicht in einer Garage, wie in der Technologiebranche üblich. Sie entstand in einem Wohnzimmer, dem von Amazon-Gründer Jeff Bezos. Bezos hatte seine engsten Mitarbeiter im Jahr 2003 zu einem Brainstorming eingeladen. Es sollten Ideen entwickelt werden, wie Amazon zusätzliches Geschäft mit seinen riesigen Großrechnern machen könnte, über die das Einzelhandelsgeschäft des Internetkonzerns lief. Die Vorgabe war, dass „jeder Einzelne in seiner eigenen Garage oder seinem Studentenwohnheim Zugang zur gleichen Kostenstruktur, Skalierbarkeit und Infrastruktur haben könnte wie die größten Unternehmen der Welt“, erzählte Andy Jassy, einer der Teilnehmer, einmal.

Aus der Idee wurde eine der wichtigsten Sparten des Konzerns, Amazon Web Services oder AWS. Und Jassy, der den Geschäftsbereich in den Jahren nach der Brainstorming Session aufgebaut hatte, wurde zum designierten Nachfolger von Jeff Bezos. Wie Amazon bekannt gab, wird Jassy im dritten Quartal den Vorstandsvorsitz von Bezos übernehmen. Bezos wird als „Executive Chairman“ weiter dem Verwaltungsrat vorstehen, einer Art Aufsichtsrat.

Jassy galt als Kronprinz von Bezos, seit Jeff Wilke, der Leiter des Einzelhandelsgeschäfts, seinen Rücktritt für das Frühjahr 2021 angekündigt hatte. Er war Bezos’ erster „Schatten“ im Unternehmen, eine Art technischer Assistent. Als frischgebackener Absolvent der Harvard Business School hinterließ Jassy in den späten 1990er Jahren einen ersten, bleibenden Eindruck auf den Gründer, als er Bezos während eines Ballspiels in der Freizeit versehentlich mit einem Kajakpaddel auf den Kopf schlug. Aber Bezos erkannte trotz des Missgeschicks das Talent seines Adjutanten, der die Glaubenssätze, die Unternehmensphilosophie des Gründers, in sich aufsog: Kundenbesessenheit, langfristiges Denken und die Notwendigkeit ständiger Selbstüberprüfung und Veränderung. Jassy bevorzugt wie Bezos auch datengestützte Entscheidungen. Er ist als gelegentlicher Mikromanager bei Projekten bekannt, die ihm am Herzen liegen – eine weitere Eigenschaft, die er mit Bezos teilt. Kollegen sind jedenfalls von seiner Fähigkeit beeindruckt, sich an kleine Details aus längst vergangenen Besprechungen zu erinnern.

AWS steuerte zuletzt ein Zehntel des Umsatzes, aber die Hälfte zum operativen Gewinn von Amazon bei. Anfänglich sprach die Sparte vor allem Start-ups an, die mit einer Kreditkarte die benötigten Rechnerdienste kaufen konnten. Mittlerweile sind die Kunden der ersten Stunde selbst zu großen, börsennotierten Unternehmen geworden, etwa der Zimmervermittler Airbnb oder der Fahrdienstleister Lyft.

Später kamen etabliertere Konzerne hinzu, die Rechnerleistung bei Amazon mieteten, anstatt eigene Rechner aufzubauen. Mit einem weltweiten Marktanteil von einem Drittel ist Amazon Marktführer im Cloud-Geschäft vor dem Softwarekonzern Microsoft.

Wenig bekannt

Dennoch ist der 53 Jahre alte Jassy außerhalb der Technologiebranche kaum bekannt. Das könnte ein Vorteil sein, weil Bezos als öffentliches Gesicht von Amazon zur Zielscheibe für Kritiker und politische Gegner der ganzen Technologiebranche geworden war.

Für Konkurrenten wie Microsoft, aber auch Google oder Oracle, die mit Amazon im Cloud Computing konkurrieren, ist Jassys Aufstieg zum CEO möglicherweise eine schlechte Nachricht. „Andy Jassy hat sich seit fast zwei Jahrzehnten auf die AWS-Seite von Amazon konzentriert“, sagte Sucharita Kodali, eine Analystin der Marktforschungsgesellschaft Forrester. „Vorstandschefs konzentrieren sich auf ihre Babys. Wenn ich Oracle oder Google oder Microsoft wäre, wäre ich nervös.“