Regulierung

Digitale Wirtschaft steht vor Neuordnung

Am 15. Dezember 2020 hat die Europäische Kommission ein wegweisendes Gesetzgebungspaket zur Regulierung der digitalen Wirtschaft in der EU vorgestellt. Es besteht aus zwei Säulen, mit denen neue Regeln insbesondere für große Online-Plattformen...

Digitale Wirtschaft steht vor Neuordnung

Von Michael Dietrich *)

Am 15. Dezember 2020 hat die Europäische Kommission ein wegweisendes Gesetzgebungspaket zur Regulierung der digitalen Wirtschaft in der EU vorgestellt. Es besteht aus zwei Säulen, mit denen neue Regeln insbesondere für große Online-Plattformen eingeführt werden sollen.

Digital Services Act

Die erste Säule ist die Verordnung für digitale Dienste (Digital Services Act, DSA). Sie ist im Kern eine Aktualisierung und Erweiterung der E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000. Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Video-Sharing und Cloud-Dienste gab es damals nicht. Mit dem Entwurf reagiert die Kommission nun auf die grundlegenden Veränderungen in der Art und Weise, wie seitdem in Politik, Wirtschaft und im privaten Bereich kommuniziert wird.

Hauptziel des DSA ist die Einführung neuer Regeln für Online-Vermittler und Plattformen, wobei Umfang und Intensität der Verpflichtungen zunehmen, je größer und bedeutsamer die Adressaten der Regelungen sind. Die umfangreichsten Verpflichtungen gelten für sehr große Online-Plattformen mit mehr als 45 Millionen Nutzern in der EU. Sie sollen verpflichtet sein, die wichtigsten Parameter der Algorithmen offenzulegen, auf deren Grundlage sie Inhalte anbieten oder Werbung zeigen (Profiling). Nutzer müssen zudem die Möglichkeit haben, die voreingestellten Parameter zu ändern.

Digital Markets Act

Die zweite Säule des Gesetzespakets ist die Verordnung über digitale Märkte (Digital Markets Act, DMA). Anders als der DSA richtet sich der DMA nur an große Online-Plattformen, die eine besondere Bedeutung im europäischen Binnenmarkt haben. Anlass ist die Schlussfolgerung der Kommission, dass die Kartellrechtsdurchsetzung im digitalen Bereich wegen der rechtlichen Komplexität der Verfahren und der Verfahrensdauer bislang nicht ausreichend effektiv war.

Statt bestimmte Verhaltensweisen im Nachhinein im Rahmen der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht zu ahnden, will die Kommission mit dem DMA nunmehr vorbeugend eingreifen können, wenn das Verhalten von sogenannte Gatekeeper-Plattformen den Wettbewerb gefährdet. Der DMA enthält hierfür insgesamt 18 Dos und Don’ts, die sich eng an den Ergebnissen aus kartellrechtlichen Missbrauchsverfahren orientieren, die Brüssel in den letzten Jahren gegen große Digitalunternehmen geführt hat.

Begriff des Gatekeepers

Die Debatte, wie man den Wettbewerb mit „Big Tech“ regulieren und die Schnittstelle zum Kunden offen halten kann, wird weltweit geführt. Die EU positioniert sich mit dem Gesetzgebungspaket als Vorreiter bei der Schaffung eines verbindlichen Regelwerkes für die Risiken und Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Wirtschaft. Deutschland hat die Kommission mit Inkrafttreten der 10. GWB-Novelle am 19. Januar 2021 im Bereich des Kartellrechts überholt. Das Bundeskartellamt schickt sich bereits an, mit der Anwendung der darin enthaltenen regulierungsähnlichen Regelungen für den Wettbewerb auf Plattformmärkten vorzeitig Fakten zu schaffen (Interview auf dieser Seite).

Der DMA ist als unmittelbar anwendbare, sektorspezifische Verordnung konzipiert. Das europäische und mitgliedsstaatliche Kartellrecht bleibt unberührt. Den Mitgliedstaaten bleibt es zudem unbenommen, strengere Vorschriften zu erlassen. Damit dürften die mit der 10. GWB-Novelle gerade erst eingeführten Eingriffsinstrumente des Bundeskartellamtes unabhängig vom Inkrafttreten des DMA anwendbar bleiben. Für die Anwendung des DMA zentral ist der Begriff des Gatekeepers. Bevor ein Unternehmen nach dem DMA in Anspruch genommen werden kann, ist die Gatekeeper-Stellung von der Kommission positiv festzustellen. Gatekeeper sollen Betreiber von einem von acht Plattformdiensten (der DMA nennt Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Betriebssysteme sowie Cloud-Computing-, Video-Sharing-, Messenger-, Online-Vermittlungs- und Werbe-Dienste) sein, die zugleich in mindestens drei Mitgliedstaaten tätig sind und wegen der großen Zahl aktiver Nutzer einen erheblichen Einfluss auf den Markt haben. Zudem müssen sie für gewerbliche Nutzer wesentlich sein, um Endkunden in der EU zu erreichen. Diese Kriterien werden mit Schwellenwerten unterlegt, die, wenn sie erfüllt sind, eine widerlegbare Vermutung für eine Gatekeeper-Stellung begründen. Sollten diese Schwellenwerte nicht erfüllt sein, kann die Kommission eine Gatekeeper-Stellung nach Durchführung einer Marktuntersuchung auch feststellen.

Gatekeeper sollen nach dem DMA künftig Verhaltenspflichten unterliegen. Das umfasst im Einzelnen beispielhaft das Verbot der Datenmischung, das Verbot von Meistbegünstigungsklauseln, das Verbot von verpflichtenden Einmalanmeldungen und das Koppelungsverbot. Sollte es hierbei bleiben, hätte der DMA potenziell gravierende Auswirkungen auf Gatekeeper wie auch für gewerbliche und private Nutzer dieser Plattformen.

Das ist jedoch nicht unbedingt zu erwarten. Kritik entzündet sich vor allem an der Typisierung von unzulässigen Verhaltensweisen. Es wird argumentiert, dass ein Verhalten, das im konkreten Einzelfall missbräuchlich sei, außerhalb des spezifischen Kontexts nicht zwingend unzulässig sein müsse. Zur Vermeidung einer innovationshemmenden Überregulierung seien im DMA festgehaltenen Verhaltenspflichten daher im Lichte des Geschäftsmodells des jeweiligen Gatekeepers auszulegen.

Unangekündigte Prüfungen

Das dürfte aus Sicht der Kommission aber ähnlich intensive Ermittlungen wie in einem Kartellverfahren erfordern und daher mit dem Ziel des DMA, präventiv und schnell einzugreifen, kaum vereinbar sein. Ohnehin sind die Wesensmerkmale von Gatekeepern aus Sicht der Kommission sehr ähnlich. In allen Fällen sollen starke Netzwerkeffekte ebenso w­­­­­­­­­­­­ie Skaleneffekte, niedrige Grenzkosten, Tipping und Lock-in-Effekte eine Rolle spielen. Es bleibt abzuwarten, ob das allein als Rechtfertigung für einheitliche Verhaltensregeln ausreichen kann.

Darüber hinaus sollen Gatekeeper nach dem DMA verpflichtet sein, die Kommission über jeden Zusammenschluss in digitalen Märkten vor Vollzug zu unterrichten, und zwar unabhängig davon, ob die Aufgreifschwellen der Fusionskontrollvorschriften erfüllt sind. Dessen ungeachtet wird gefordert, die Regeln der europäischen Fusionskontrolle zu verschärfen, um künftig deutlich mehr Zukäufe von Gatekeepern im digitalen Sektor zu erfassen.

Zur Durchsetzung der Verhaltenspflichten im DMA will die Kommission künftig unangekündigte Nachprüfungen vornehmen und Auskunftsbeschlüsse erlassen können. Für Verstöße gegen die Verhaltenspflichten sind Sanktionen von bis zu 10% des weltweiten Konzernumsatzes des betroffenen Gatekeepers möglich. Das erscheint weitgehend mit dem geltenden kartellrechtlichen Rahmen vergleichbar. Bei systematischen Rechtsverletzungen will die Kommission aber zusätzlich verhaltensbezogene oder – als äußerstes Mittel – auch strukturelle Abhilfemaßnahmen (wie die Aufspaltung des Gatekeepers) anordnen können.

Die von der Kommission vorgelegten Verordnungsvorschläge sind vom Europäischen Parlament und dem Rat der EU zu verabschieden. Es zeichnet sich bereits jetzt große Unterstützung für die Vorschläge im Parlament und den Mitgliedstaaten (und ganz besonders auch in Deutschland) ab. Allerdings gibt es an vielen Punkten noch erheblichen Diskussionsbedarf. Daher ist davon auszugehen, dass der DMA frühestens in 18 bis 24 Monaten in Kraft tritt.

Unabhängig davon dürfte das Gesetzgebungspaket das Potenzial haben, einen DSGVO-Moment zu erzeugen, in dem mit Inkrafttreten der Verordnungen ein neuer weltweiter Standard für die Regulierung im digitalen Sektor entsteht. Vor diesem Hintergrund sollten nicht nur potenzielle Gatekeeper, sondern auch gewerbliche und private Nutzer von zentralen Plattformdiensten die weitere Entwicklung im Auge be­halten.

*) Dr. Michael Dietrich ist Partner in der Praxisgruppe Kartellrecht von Clifford Chance in Düsseldorf.