GastbeitragNachhaltigkeit

Aufsichtsräte geben Lücken in ESG-Themen zu

In einer weltweiten Umfrage äußern sich Aufsichtsräte von Unternehmen selbstkritisch: Einer Mehrheit fehlt das Wissen, um Strategien für Nachhaltigkeit professionell zu überwachen.

Aufsichtsräte geben Lücken in ESG-Themen zu

Gastbeitrag

Aufsichtsräte geben Lücken in ESG-Themen zu

Nicolas von Rosty, Deutschlandchef von Heidrick & Struggles

Die gute Nachricht vorweg: Es gibt im Rahmen der Arbeit von Aufsichtsräten weltweit signifikante Fortschritte in der Wahrnehmung und Akzeptanz von ESG-Themen. Board-Mitglieder rund um den Globus wissen, dass ihre Unternehmen insbesondere für den Klimaschutz und andere Nachhaltigkeitsthemen große Verantwortung tragen, der sie gerecht werden wollen. Sie wissen um die Aufgabe, und die überwiegende Mehrheit bestätigt, dass ihre Unternehmen auch eine klare Einschätzung der strategischen Chancen und Risiken bezüglich Nachhaltigkeit besäßen.

Regionale Unterschiede

Dies sind Ergebnisse, die wir jüngst zusammen mit Insead und der Boston Consulting Group (BCG) in der Studie „The Role of the Board in the Sustainability Era“ gewonnen haben. Der Report prüft zum zweiten Mal nach 2021 die Einschätzungen von Aufsichtsräten bezüglich ESG. 879 Board-Mitglieder aus 45 Ländern und 19 Branchen haben sich diesmal beteiligt. Bemerkenswert ist, dass die Ergebnisse kaum von Land zu Land und Branche zu Branche abweichen. Sie gelten auch für Deutschland.

Gleichzeitig geht aus den Antworten der Board-Mitglieder und zahlreichen Diskussionen, die im Rahmen der Studie geführt wurden, aber auch hervor, dass es zwischen Erkenntnis und guter Intention einerseits und der Wirklichkeit der Gremienarbeit andererseits eine unübersehbare Diskrepanz gibt. Es sind eine ganze Reihe von Aspekten, die die Aufsichtsräte selbstkritisch reflektieren.

Externe Gutachten kommen zu kurz

So gibt eine überwiegende Mehrheit der befragten Mitglieder von Aufsichtsgremien zu, inhaltlich zu wenig von Sustainability-Themen zu verstehen. Lediglich 29% sehen sich ausreichend vorbereitet, um Nachhaltigkeitsstrategien in ihren Unternehmen professionell zu überwachen. Mit dieser Wissenslücke einher geht die Selbsteinschätzung, dass sich neun von zehn Aufsichtsräte vornehmlich auf Management-Berichte verlassen, um sich über ESG-Themen in ihren Unternehmen auf dem Laufenden zu halten. Eine externe Begutachtung von Experten kommt demnach zu kurz.

Hier offenbart sich ein Dilemma. Für viele aktuelle Board-Mitglieder spielten ESG-Themen im Lauf ihrer Karrieren keine hervorgehobene Rolle. Heute erkennen sie zwar die Relevanz dieses Feldes, es fehlt jedoch zumindest einem Teil das notwendige Know-how.

Fortbildung notwendig

Diese Kompetenzlücke könnte mittel- bis langfristig über Neubesetzungen der Aufsichtsgremien geschlossen werden. Allerdings liegt bei der Auswahl neuer Räte noch kein wirklicher Schwerpunkt auf ESG-Wissen. 48% unserer Befragten bestätigen, dass Kenntnisse und Erfahrung mit Nachhaltigkeitsthemen entweder „keine“ oder nur „geringe“ Bedeutung für das Kompetenz-Profil hätten.

Kurzfristig kann dies nur bedeuten: Wer Aufsichtsratsarbeit ausübt, braucht zusätzliche systematische Fortbildung. Weil die Board-Arbeit ohnehin immer anspruchsvoller wird, benötigen Gremienmitglieder nicht nur für ESG, sondern in der Breite aktuelle Expertise, die weit über die traditionellen Kenntnisse von Aufsichtsräten hinausreicht. Unter anderem für den ESG-Komplex sollten Standards für das Kompetenz-Profil eingeführt werden.

Schlechtes Gefühl

Und einen weiteren Aspekt zeigt der Report. Es herrscht eine latente Spannung zwischen der Bedeutung von Klimaschutz einerseits und der Zeit und der Anstrengung andererseits, die nötig wären, um dem Thema gerecht zu werden. Dies sei ein ständiger Diskussionspunkt in der Gremienarbeit von Aufsichtsräten. Im Klartext: Board-Mitglieder haben das schlechte Gefühl, dass sie sich zu wenig mit ESG auseinandersetzen. Auf die Frage, was Aufsichtsräte abhält, mehr Zeit in die Planung etwa von Klimaschutzthemen zu investieren, nennen 72% die Notwendigkeit, sich anderen Fragen als Nachhaltigkeitsthemen mit hoher Priorität zu widmen.

Viele aktuelle Themen wie die Geopolitik, Inflation und Wirtschaftskrise, künstliche Intelligenz und neue Arbeitsmodelle machen ESG auf der Prioritätenliste der Unternehmensüberwachung derzeit Konkurrenz.

Wenig Effekt für Finanzziele

Spannend ist auch die Frage nach der Motivation für die Implementierung von ESG-Zielen aus der Perspektive der Boards. Den höchsten Wert erzielt die Antwort, „weil es das Richtige“ ist (52%). Im Sinne von Nachhaltigkeit zu handeln, ist für viele demnach auch eine normative Entscheidung. Eine ähnlich hohe Motivation (51%) sind aktuelle und künftige legislative Vorgaben. Als relevante Motivatoren kommen hinzu „Kapitalmarkt und Investoren“, die Nachhaltigkeit einfordern, sowie die Bedeutung von Klimaschutz für die „Gewinnung und das Binden von Talenten“.

Hingegen sehen die befragten Aufsichtsräte in ihrer Mehrheit keinen erhöhten finanziellen Druck, um nachhaltig zu agieren. 68% sagen, dass Betrachtungen zum Klimaschutz „keinen Effekt“ oder lediglich einen „geringen Effekt“ auf die Finanzperformance heute hätten. Entsprechend sieht auch nur eine kleinere Gruppe der Befragten langfristige finanzielle Risiken, sofern Nachhaltigkeitsziele nicht ausreichend in das Geschäftsmodell integriert wären.

Für viele Board-Mitglieder ist es also aus rein wirtschaftlicher Sicht keine Überlebensfrage, ein hohes Maß an Nachhaltigkeit zu gewährleisten.

Teil der Unternehmensstrategie

Last but not least: Bei einer wichtigen Stellschraube zur Verfolgung eines nachhaltigen Geschäftsmodells sind sich die Board-Mitglieder überwiegend einig. Unternehmen, denen es mit Sustainability Ernst ist und die hierbei erfolgreich sein wollen, sollten ihre Klimaschutz- und sonstigen ESG-Anstrengungen in die generelle Entscheidungsfindung des Unternehmens einbetten. 66% fordern demnach, Nachhaltigkeitsüberlegungen sollten gänzlich integriert werden in die Firmenstrategie – aber in nur 38% der Unternehmen sei dies bereits der Fall.

Die Einschätzungen von Aufsichtsräten rund um den Globus zeigen also, dass es noch eine lange Wegstrecke ist, die Unternehmen auf Nachhaltigkeit und andere ESG-Ziele umzurüsten. Der Wille dafür ist allerdings vorhanden.

Nicolas von Rosty

Nicolas von Rosty

Deutschlandchef von Heidrick & Struggles

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