GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (91)

Allokationen auch bei Negativzinsen beibehalten

Börsen-Zeitung, 19.10.2019 Negativzinsen sind Realität geworden. Umschichtungen Richtung Dividendenwerte klingen verlockend, Ratschläge wie "mit Aktien gegen Negativzinsen" sind weit verbreitet. Was aber sagt die Wissenschaft zu solchen Thesen?...

Allokationen auch bei Negativzinsen beibehalten

Negativzinsen sind Realität geworden. Umschichtungen Richtung Dividendenwerte klingen verlockend, Ratschläge wie “mit Aktien gegen Negativzinsen” sind weit verbreitet. Was aber sagt die Wissenschaft zu solchen Thesen? Sollten Anleger das Risiko in ihren Portfolios wirklich erhöhen?Zunächst die entscheidungstheoretische Betrachtung: Ziel der Anlage in risikobehaftete Anlagen ist es, eine höhere Rendite als den risikofreien Zins zu erzielen. Bei unveränderter Risikoprämie und Volatilität riskanter Anlagen verändert ein niedriger oder sogar negativer Zins die Attraktivität (also das Austauschverhältnis zwischen Rendite und Risiko) riskanter Anlagen aber nicht. Die Investitionsmöglichkeiten bleiben dieselben. Alle Renditen sind gemeinsam um die gleichen Prozentpunkte gefallen. Selbst bei negativen Zinsen wird der rationale Investor seine Allokation in Geldmarktanlagen nicht ändern, solange seine Risikoaversion sich nicht geändert hat. Auch der sichere Verlust stellt eine risikolose Position dar. Erhöht ein Investor in einer solchen Situation seine Aktienquote, so nimmt dieser mehr Risiko, ohne dafür entsprechend seiner Risikoaversion entlohnt zu werden. Die durchschnittliche Rendite reicht aus seiner Sicht also nicht aus, um die nun größeren Schwankungen des Vermögens zu kompensieren. Der Investor wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zeiten hoher Verluste aus seiner Position gezwungen, weil er das Risiko noch höherer Verluste nicht mehr tragen kann. Deshalb ist die oft geäußerte Forderung nach einer stabilen Gesamtrendite in einer Niedrigzinsphase auch nicht mit dem Konzept einer persönlichen und insgesamt stabilen Risikoaversion in Einklang zu bringen. Es gilt, Rendite und Risiko gegeneinander abzuwägen und nur dann riskanter zu investieren, wenn sich die Investitionsmöglichkeiten in Form erzielbarer Überschussrendite pro Risikoeinheit verbessert haben. Die absolute Höhe des risikolosen Zinses ist dabei unerheblich.Welches Verhalten beobachten wir in der Realität? In einer jüngsten Studie haben Forscher der Universitäten Harvard, MIT und Chicago zwei Gruppen von je 200 Teilnehmern je eine hypothetische Kapitalmarktsituation vorgelegt. Mitgliedern der Gruppe 1 wurde mitgeteilt, der risikofreie Zins betrage 5 % mit einer Risikoprämie von ebenfalls 5 % (10 % Gesamtrendite für riskante Anlagen, sprich Aktien). Mitglieder der Gruppe 2 wurden mit einem risikofreien Zins von 1 % und ebenfalls einer Risikoprämie von 5 % (jetzt 6 % Gesamtrendite) konfrontiert. Beide Gruppen bekamen also das gleiche Austauschverhältnis von Rendite und Risiko (identische Risikoprämie und Sharpe-Ratio), aber ein unterschiedliches Zinsniveau. Die Frage war nun: Wie würden sie ihr Vermögen zwischen risikofreier Anlage und Aktien aufteilen? Anleger der Gruppe 1 investierten im Schnitt 56,8 % in Aktien, Anleger der Gruppe 2 (Niedrigzinsgruppe) dagegen fast 65 %. Senkte man den risikofreien Zins weiter auf -1 %, so stieg der gewählte Anteil der riskanten Anlage sogar auf 78 %. Was verleitet zu solcher Irrationalität? Eine Rolle spielt vermutlich die Wahl des Referenzpunktes. Ein Zins von 1 % erscheint zu niedrig, wenn die eigene Kapitalmarkterfahrung höhere Zinsen erwarten lässt. Fallen Zinsen unter den (historischen) Referenzpunkt, dann erhöhen Anleger ihren Anteil an riskanten Anlagen im Portfolio. Einen weiteren Erklärungsansatz liefert die Salienztheorie, wonach besonders hervorstechende Reize eher ins Bewusstsein dringen. Hier heißt das: 6 % Zinsen springen mehr ins Auge als 1 % Zinsen. Begründet wird dies mit Einsichten der Psychologie: Menschen bewerten Impulse relativ und nicht absolut. Bei Anlageentscheidungen kann das fatal sein. Nehmen wir an, der risikofreie Zins liegt bei 50 %, die Risikoprämie von Aktien bei 5 %. Ist es die “relativ” geringe Zunahme der Rendite auf 55 % nun wert, das Aktienrisiko einzugehen? Intuitiv beantworten das sicher viele Leser mit “Nein”, obwohl sie bei der Alternative zwischen 1 % und 6 % “Ja” gesagt hätten. Rational ist das nicht.Außerhalb der experimentellen Forschung ist der empirische Beleg für eine Erhöhung der Aktienquote bei Negativzinsen unterdessen kaum vorhanden. In Japan hatte der Übergang zu Negativzinsen 2014 keine Erhöhung der Aktienquote zur Folge, und auch aktuell ist keine Abweichung des Marktportfolios von der Historie festzustellen. Der einzige Rezessions-HedgeAnleger sind auch in Zeiten negativer Zinsen gut beraten, Ruhe zu bewahren und ihre Allokationen beizubehalten. Der instinktive Drang zum Wechsel in höher rentierliche Anlagen ist emotional verständlich, aber wenig rational. Ein solches Verhalten erhöht das Risiko, ohne dass sich das Austauschverhältnis von Rendite und Risiko verändert hätte. Dem gegenüber stehen die Diversifikationseigenschaften von langen Renten. Sie sind der einzig verfügbare wirksame Rezessions-Hedge für Anleger, denn Schocks, die vom Aktienmarkt ausgehen, führen fast immer zur Flucht in sichere Staatsanleihen. Damit haben Renten für das Portfolio auch jetzt eine wichtige Funktion. Bernd Scherer, Geschäftsführer der Lampe Asset Management Zuletzt erschienen Die Falltiefe von Anleiherenditen ist begrenzt (90), Berenberg Bank Niedrige Zinsen rechtfertigen größeres Aktien-Exposure (89), Hauck &Aufhäuser Investitionen in Abfallwirtschaft (88), Pictet Asset Management