An der Wall Street drohen scharfe Rücksetzer
Anfälliger Bullenmarkt
Rally des S&P 500 gilt als schwach untermauert – Margen der US-Unternehmen geben nach
Der S&P 500 hat in der laufenden Woche den höchsten Stand seit über einem Jahr erreicht. Doch statt breitem Optimismus macht sich unter Analysten die Sorge vor steilen Rückschlägen breit. Denn die jüngste Rally gilt als schwach untermauert – nun drohen Gefahren aus mehreren Richtungen.
Von Alex Wehnert, New York
Der S&P 500 hat den längsten Bärenmarkt seit den 1940er Jahren hinter sich gelassen – doch Anlagestrategen zweifeln an der Nachhaltigkeit des Aufschwungs. Denn die jüngste Rally, die den amerikanischen Leitindex in der vergangenen Woche nach 248 Tagen Wartezeit zurück ins Bullenterritorium führte, gilt als schwach untermauert.
Zwar legte der S&P 500 zwischen Jahresbeginn und Mittwochabend um 14,3% zu und erreichte in der laufenden Woche den höchsten Stand seit mehr als einem Jahr – der Kursgewinn ist aber einmal mehr hauptsächlich auf die sieben führenden Tech-Werte des Börsenbarometers zurückzuführen. So liegt der S&P 500 Equal Weight, in dem die Komponenten nicht nach Marktkapitalisierung gewichtet, sondern fix mit 0,2% allokiert werden, seit Anfang Januar gerechnet mit 4% im Plus. Wer Apple, Microsoft, Amazon, Nvidia, Alphabet, Meta Platforms und Tesla ganz herausrechnet, kommt nur noch auf einen äußerst knappen Zugewinn.
Diskrepanz am Terminmarkt
Die Diskrepanz schlägt sich auch am Terminmarkt nieder. So waren Futures- und Optionshändler für den Nasdaq 100 gemäß Daten des Derivate-Regulators CFTC zuletzt so bullish positioniert wie seit September 2022 nicht, obwohl der technologielastige Index seit Jahresbeginn bereits mehr als 38% zugelegt hat. Dagegen erreichte das Short Interest – also die Leerverkaufsquote – in Kontrakten auf den S&P 500 in der vergangenen Woche das höchste Niveau seit 2007.
Während die Furcht vor einer anhaltenden Krise im US-Bankensektor den breiten Markt belastet, treibt die Euphorie um künstliche Intelligenz die führenden Tech-Werte an. Gerade die Nvidia-Aktie hat seit Ende Mai gewaltig angezogen, die Marktkapitalisierung des Chipriesen knackte die Marke von 1 Bill. Dollar. Zuvor hatte das Unternehmen, dessen Grafikprozessoren eine wichtige technologische Grundlage für die Entwicklung lernfähiger Algorithmen darstellt, für das laufende Quartal einen Umsatzsprung um 64% gegenüber Vorjahr prognostiziert. Doch nach dem jüngsten Kursspurt sind Nvidia – wie auch andere Tech-Werte – bei ergebnisseitigen Enttäuschungen laut Analysten anfällig für Kurskorrekturen. Dies wiederum berge steiles Rückschlagspotenzial für die gesamte Wall Street.
Die Chancen auf positive Überraschungen im Rahmen der Berichtssaison zum zweiten Quartal schätzen Analysten dagegen als gering ein. Gemäß Konsensprognose dürften die Erlöse im S&P 500 gegenüber Vorjahr um 0,5% zurückgehen – die Gewinne pro Aktie aber um 5,4%. Bereits zuletzt stand die Profitabilität der US-Unternehmen unter Druck. Die Margen im S&P 500 sanken im ersten Quartal auf 11,8%, im Vorjahr lagen sie bei 13,2%.
Im historischen Vergleich mag sich die Umsatzrentabilität noch robust ausnehmen, doch Daten des Handelsministeriums der Vereinigten Staaten zeichnen ein düstereres Bild für die Gesamtwirtschaft. Demnach kamen die Nachsteuergewinne im ersten Quartal auf einen Anteil von 8,7% am Bruttoinlandsprodukt, dies bedeutet den niedrigsten Wert seit 2016. Insbesondere steigende Lohnkosten werden zur zunehmenden Belastung. Und selbst Branchen, deren Vertreter in großem Stil Stellen abbauen, stehen vor hohen Mehraufwendungen für Abfindungen.
Fed bringt neue Sorgen
Angesichts der ohnehin angespannten Liquiditätssituation schafft die Kommunikation der Federal Reserve neue Sorgen. Denn die Währungshüter hoben die Zinsen in der laufenden Woche nach zehn Erhöhungen in Folge zwar nicht weiter an, doch Aussagen von Notenbankchef Jerome Powell lassen Marktteilnehmer neue restriktive Maßnahmen bereits beim nächsten Treffen des Offenmarktausschusses im kommenden Monat erwarten. Zwölf von 18 Fed-Offiziellen gaben in ihren ökonomischen Ausblicken an, im Kampf gegen die Inflation im laufenden Jahr mit zwei weiteren Zinsanhebungen zu rechnen. Bereits ein weiterer Schritt würde die Leitzinsen ausgehend von der aktuellen Spanne von 5 bis 5,25% auf das höchste Niveau seit 22 Jahren führen. Eine weitere Liquiditätsverknappung an den Finanzmärkten dürfte den Druck auf die führenden Wachstumswerte der Wall Street laut Analysten wieder erhöhen.
Höhere Volatilität befürchtet
In diesem Umfeld stellen sich Hedgefonds und andere institutionelle Investoren auf neuerliche Anstiege der Marktvolatilität ein. Zwar notiert der CBOE Volatility Index (Vix) mit 14,28 Punkten nahe der niedrigsten Niveaus seit mehr als drei Jahren, doch die Handelsvolumina von Optionen auf das Angstbarometer der Wall Street fallen so hoch aus wie seit dem Corona-Einbruch im März 2020 nicht. Die größten Positionen befinden sich in Kontrakten, mit denen Investoren auf einen Anstieg des Vix über die Marken von 30 bzw. sogar 60 Punkten wetten – letzteres Niveau ist üblicherweise nur während großen Börsencrashs zu beobachten.
Zur steigenden Volatilität könnte auch das massive Neuangebot an Schatzwechseln beitragen, das in den kommenden Monaten auf die Finanzmärkte zurollt. Laut J.P. Morgan stehen nach der Einigung im Streit um die Schuldenobergrenze bis Ende September T-Bill-Emissionen im Volumen von 850 Mrd. Dollar an, die während des Streits auf Eis lagen. Die plötzliche Flut kurzlaufender Staatsanleihen droht die Investoren zu überfordern und neuerliche Verwerfungen auch im Sekundärmarkt für Treasuries nach sich zu ziehen, dessen Stabilität ohnehin unter der jüngsten Krise im Finanzsektor gelitten hat. Bricht dieser sichere Hafen aber weiter weg, dürfte sich dies laut Analysten auch auf andere Assetklassen auswirken – dann könnte der S&P 500 schneller in den Bärenmarkt zurückkehren, als viele Investoren derzeit realisieren.