Bei Siemens entscheidet das Timing
Von Michael Flämig, MünchenBeschaulichkeit und Ruhe werden allgemein mit der nun beginnenden Adventszeit verbunden. Nun neigt der Kapitalmarkt bekanntlich weder zur Sentimentalität noch zum Innehalten. Dies zeigt der Fall von Siemens in besonders deutlicher Weise, denn der Dezember wird viel Bewegung rund um das Unternehmen und die Aktie bringen. Es stehen an: Veröffentlichung des Geschäftsberichts, die Einladung zur Hauptversammlung und die Vorbereitung auf die Quartalszahlen. Herausstechen wird jedoch ein Termin, der sich nicht einreiht in den alljährlichen Routineturnus: Der Kapitalmarkttag am 9. Dezember. Am Vorabend genießen die Analysten ein Dinner mit den Vorständen, am nächsten Tag werden von 8 bis 17 Uhr Informationen serviert. Worauf sollten sich die Investoren einstellen? Die VisionDas Hauptgericht wird bereits durch den Titel der Veranstaltung verraten: “Vision 2020”. Der Blick des Managements richtet sich auf das langfristig angelegte Umbauprogramm. Naturgemäß sind viele Details zu erwarten, die Anleger werden die Planung für die Strategie-Umsetzung aufmerksam verfolgen. Interessanterweise allerdings ist schon vor dem Kapitalmarkttag klar, dass die Analysten relativ überzeugt sind von dem Ansatz.So formulierte Ben Uglow von Morgan Stanley in einer Studie am 7. November: “Wir sind langfristige Unterstützer des aktuellen Managements und beurteilen die Reorganisation positiv.” Die Verkäufe großer Einheiten wie Bosch Siemens Hausgeräte und der Audiosparte sei innerhalb weniger Monate gelungen, lobte der Analyst. Sein Kollege Andreas Willi von J.P. Morgan stufte am 10. November den Umbauplan, der im Mai präsentiert wurde, ebenfalls erneut als positiv ein und diagnostiziert eindrucksvolle Fortschritte bei Unternehmensverkäufen. In die gleiche Kerbe schlug die Citigroup wenige Tage nach einer Roadshow, die das Bankhaus am 7. November in London mit dem Siemens-Vorstand organisierte: “Die Schlussfolgerungen aus dem Treffen unterstützten unsere langfristige Kaufempfehlung.”So viel Zustimmung müsste sich im Aktienkurs widerspiegeln. Wer allerdings den Chart betrachtet, der wird enttäuscht sein. Sicher: Die Aktie hat in den vergangenen sechs Wochen kräftig zugelegt. Ausgehend von rund 83 Euro kletterte sie bis Donnerstagabend auf 96,40 Euro. Nur: Damit folgt das Papier lediglich der Begeisterung aller Anleger über die Freigiebigkeit der Europäischen Zentralbank und über den wieder aufkommenden Konjunkturoptimismus. Die Aktie marschiert im Geleitzug des Dax.Eine länger andauernde Outperformance erlebte die Aktie letztmals, als Vorstandschef Joe Kaeser im August 2013 sein Amt antrat. Bis Januar eilte sie sämtlichen Vergleichsindizes davon. Nach dem Rückschlag auf Dax-Durchschnittsniveau folgte eine Phase oszillierender Performance bis zum 22. September. Siemens kündigte an diesem Tag den Kauf des Ölindustrie-Ausrüsters Dresser-Rand für 7,6 Mrd. Dollar an. Strategisch einleuchtend, aber teuer, lautete damals die Einschätzung der Anleger. Mit dem Absturz des Ölpreises verschärfte sich das Urteil, schließlich baut Dresser-Rand vorrangig auf Investitionen der Fracking-Branche – je niedriger der Ölpreis, desto weniger lohnend sind diese Geschäftsmodelle. Gerechnet vom Tag der Kaufankündigung hinkt die Siemens-Aktie rund 7 Prozentpunkte hinter dem Dax her. Warten auf den EinstiegDer scheinbare Widerspruch zwischen Analysteneinschätzungen und Aktienkursentwicklung löst sich auf, wenn man die Studien im Detail betrachtet. Denn die Zustimmung für die langfristige Strategie korrespondiert mit Skepsis auf kurze Sicht. Das Timing der Siemens-Anlage ist aus Sicht der Analysten der entscheidende Punkt. Morgan Stanley habe auf einen Einstiegskurs seit August gewartet und habe noch immer nicht das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt erreicht sei, kommentierte Uglow. Das Team der Citigroup erklärte: “Kurzfristig überwiegt Unsicherheit über die makroökonomische und geopolitische Lage, die auf den Aktien lasten könnte.” J.P.-Morgan-Analyst Willi stufte die Aktie im November auf “Neutral” herab und kündigte an, erst Ende 2015 das Urteil zu prüfen mit Blick auf eine mögliche Wachstumsstory im Folgejahr. Kräftiger GegenwindTatsächlich machen schon die Siemens-Prognosen für das angelaufene Geschäftsjahr 2014/2015 (30. September) klar: Der Konzern steht vor einem weiteren Übergangsjahr. Die Rendite ist unter Druck. Erstens drückt der Gegenwind bei großen Gasturbinen auf die Marge des Schwergewichts Konventionelle Kraftwerke. Das verantwortliche Vorstandsmitglied Lisa Davis kündigte an, die Sparte werde im laufenden Geschäftsjahr nur das untere Ende des Margenbandes von 11 % bis 15 % erreichen nach zuletzt 17,4 %.Zweitens muss der Konzern Umbaukosten in mittlerer dreistelliger Millionenhöhe verdauen. Die Ernte wird erst in den folgenden Geschäftsjahren eingefahren. Dies gilt auch – drittens – für die zusätzlichen Investitionen in Forschung und Vertriebsneuaufstellung. Sie sollen sich auf 800 Mill. Euro addieren. Viertens hat Siemens jüngst Sonderbelastungen beim Bau von Windkrafträdern melden müssen. Ob die veranschlagten 223 Mill. Euro ausreichen, die Schäden zu beseitigen, bleibt abzuwarten. Die Erfahrung mit ähnlichen Großschäden lehrt, dass Skepsis angebracht ist.Trotzdem will Siemens die Marge im Schnitt halten. Neben dem Abschneiden der Kurzzykliker dürfte eine zentrale Rolle spielen, ob die Geschäfte mit unterdurchschnittlicher Rendite wie angekündigt auf Vordermann gebracht werden. Noch wichtiger könnte sein, inwieweit die Investoren sich mitreißen lassen von Spekulationen über eine Abspaltung der Medizintechnik. Die Research-Fabriken produzieren bereits die schönsten IPO-Szenarien. Aber auch an dieser Stelle sollte niemand auf kurzfristige Performance wetten.