GELD ODER BRIEF

Boeing bleibt in der Krise gefangen

Von Dieter Kuckelkorn, Frankfurt Börsen-Zeitung, 28.2.2020 Die Krise des US-Flugzeugherstellers und Rüstungskonzerns Boeing hat sich in jüngster Zeit eher noch verschärft. Das Volumenmodell B-737 Max darf immer noch nicht wieder fliegen. Zusätzlich...

Boeing bleibt in der Krise gefangen

Von Dieter Kuckelkorn, FrankfurtDie Krise des US-Flugzeugherstellers und Rüstungskonzerns Boeing hat sich in jüngster Zeit eher noch verschärft. Das Volumenmodell B-737 Max darf immer noch nicht wieder fliegen. Zusätzlich tun sich auch bei anderen Produkten des Konzerns viele mehr oder minder schwere Probleme auf. So lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass es eigentlich nirgendwo mehr rund läuft im Hause Boeing. Hinzu kommt die Krise der Luftfahrtbranche durch die Coronavirus-Epidemie, die zu einer Pandemie werden könnte.Sieht man sich aber die Meinungen der Analysten zu dem Unternehmen an, so zeigen zumindest die Konsensschätzungen wenig von der Krise. Es überwiegen zwar die “Halten”-Empfehlungen der von Bloomberg erfassten Häuser mit 17 gegenüber den zehn Kaufempfehlungen. Dass es aber nur ganze drei Verkaufsempfehlungen gibt, darf als ungewöhnlich angesehen werden. Und der Durchschnitt der Prognosen für den Aktienkurs des Konzerns in zwölf Monaten von 344,41 Dollar impliziert ein beachtliches Aufwärtspotenzial von rund 16 %. Zwar dürfte es hier in den nächsten Wochen wegen der Coronavirus-Krise noch die eine oder andere Korrektur nach unten geben. Die Marschrichtung der Analysten ist aber klar: Es handelt sich nicht um eine existenzbedrohende Krise, sondern um eine zeitweilige Formschwäche, die bald überwunden werden dürfte.Dass diese Einschätzung der Realität entspricht, darf indes bezweifelt werden. Denn noch ist längst nicht absehbar, wann die 737 Max so weit nachgebessert sein wird, dass alle internationalen Aufseher grünes Licht geben. Zumal neue Probleme hinzukommen, wie das jüngste Beispiel durch Produktionsabfälle verunreinigter Treibstofftanks zeigt. Der Konzern räumt inzwischen selbst ein, dass es zwei Jahre dauern wird, bis die Produktion der 737 Max das Niveau erreichen wird, auf dem sie vor dem Flugverbot erfolgte. Altes DesignAber selbst im Fall einer baldigen Neuzulassungen ist die 737 Max mit ihrem 50 Jahre alten grundlegenden Design den sehr viel moderneren Airbus A320neo und A220 technisch unterlegen – was in niedrigeren Preisen resultieren dürfte. Der neue Boeing-Chef David Calhoun hat zudem die Entwicklung neuer Flugzeugmodelle aufgeschoben – ein schwerer strategischer Fehler, der vermutlich dem Blick auf die kurzfristige Ertragslage geschuldet ist. Dies betrifft wohl auch das wichtige New Midsize Airplane (NMA). Da die Entwicklung eines neuen Modells mindestens sieben Jahre dauert, wird deutlich, dass Boeing über die kommende Dekade keine wirklich neuen Flugzeugversionen wird anbieten können. Bei den größeren Modellen liegt der Marktanteil von Boeing nur noch bei 40 % (gegenüber 60 % für Airbus). Sollte er auf ein Drittel oder weniger fallen, wird es für Boeing in dem Duopol deutlich schwerer zu überleben.Dazu könnten auch Probleme beim “Dreamliner” 787 beitragen. Der Konzern muss bereits die Produktion drosseln, Kunden wie KLM klagen über Qualitätsmängel. Für das modernisierte Großraummodell 777X gibt es wegen technischer Probleme nach wie vor keine Zulassung, der Zeitplan für Erstflug und Auslieferung musste bereits angepasst werden. Das von der US Air Force bestellte Tankflugzeug KC-46A, das auf der alten zivilen B-767 basiert, fliegt zwar, kann aber bislang noch nicht im regulären Betrieb eingesetzt werden. Das Programm weist bereits eine Verzögerung von drei Jahren auf. Das Airbus-Konkurrenzmodell A330 MRTT (KC-45), das Boeing unter Ellbogeneinsatz aus dem Wettbewerb des Pentagon geworfen hatte, ist dagegen längst in einer ganzen Reihe von Ländern im Einsatz.Technische Probleme plagen nicht nur das Flugzeuggeschäft. Was die Ausschreibung der US-Luftwaffe für den Ersatz der alten Minuteman-III-Atomraketen betrifft, so hatte sich Boeing unter Verweis auf “Wettbewerbsnachteile” entschieden, erst gar kein Angebot abzugeben. Allein für die Entwicklungskosten lässt das Pentagon bis 2025 rund 13 Mrd. Dollar springen, was nun allein Northrop-Grumman zugutekommt.Und was die Raumkapseln des Starliner-Programms angeht, mit denen die USA endlich wieder aus eigener Kraft die Raumstation ISS erreichen wollen, wurde jüngst deutlich, dass Boeing nicht nur für das Atlas-V-Trägersystem auf russische Triebwerkstechnologie angewiesen ist, sondern auch andere technische Einrichtungen der Kapsel in Moskau zukaufen muss. Sollte sich die russische Regierung als Gegenmaßnahme zu den ständig verschärften US-Sanktionen zu einem Exportverbot entschließen, wäre dies das unrühmliche Ende des Starliner-Programms. Ähnliches gilt übrigens für russische Spezialmetalle. 40 % des russischen Flugzeug-Titans geht an Boeing. Anzumerken ist noch, dass im Dezember ein wichtiger Starliner-Test scheiterte, bei dem eine unbemannte Kapsel die Erdumlaufbahn erreichen sollte.Immerhin hat sich Boeing im Januar eine neue Kreditlinie von Banken über 12 Mrd. Dollar sichern können. Das Überleben ist erst einmal gesichert. Im Januar hat es aber keine einzige Bestellung ziviler Flugzeuge gegeben – eine solche Auftragsflaute gab es zuletzt im Jahr 1962. Airbus kam zeitgleich auf netto 274 Bestellungen.Trotz der Krise raten die Analysten von J.P. Morgan unbeirrt dazu, die Aktie überzugewichten. Sie rechnen damit, dass die US-Behörden Mitte des Jahres die Freigabe für die 737 Max erteilen – was allerdings optimistisch erscheint und nicht die Frage berücksichtigt, ob die europäischen und chinesischen Aufseher ihren US-Kollegen folgen. “Die Liquidation der 737 Max aus der Bilanz wird den Cash-Turnaround von Boeing antreiben”, glaubt man bei J.P. Morgan. Und die Anlageexperten von Barclays, die die Aktie mit “Equal Weight” einstufen, zeigen sich erleichtert, dass der “Cash Burn” im vierten Quartal mit 2,7 Mrd. Dollar geringer ausgefallen ist als befürchtet.Das Ausbuchen des Max-Desasters kann bilanziell einen Schlussstrich ziehen, operativ werden die Probleme von Boeing dadurch aber nicht gelöst. Aktienanalysten haben vor allem die kurz- bis mittelfristige Perspektive im Blick. Längerfristig sieht es hingegen für die einstige Ikone der US-Industrie nach wie vor trübe aus. Sollte die US-Regierung dereinst Boeing als wichtigen Rüstungskonzern retten müssen, wird das nicht zum Vorteil der Aktionäre sein.