Deindustrialisierung drückt europäischen Gaspreis
EU-Gaspreis auffällig niedrig
Deindustrialisierung Deutschlands belastet – Gasspeicher prall gefüllt
Der Preis für Erdgas am europäischen Spotmarkt ist im Vergleich zur Entwicklung seit Anfang 2022 auffällig niedrig. Das liegt nicht nur am vergangenen milden Winter und den Konjunkturproblemen, sondern auch am rückläufigen Verbrauch durch die sich beschleunigende Deindustrialisierung Deutschlands.
ku Frankfurt
Der Preis für Erdgas am europäischen Spotmarkt befindet sich aktuell auf einem im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit niedrigen Niveau. Am virtuellen niederländischen Übergabepunkt Title Transfer Facility (TTF) wird der Monatskontrakt aktuell für 35,53 Euro je Megawattstunde gehandelt. Wir erinnern uns: Im August 2022 hatte der Kontrakt auf dem Höhepunkt der europäischen Energiekrise einen schwindelerregendes Niveau von mehr als 300 Euro erreicht. In den Jahren vor Beginn der Krise waren Preisniveaus um 20 Euro der Normalfall.
Mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs und dem Ausbruch des neuen Ost-West-Konfliktes befindet sich die Europäische Union in einem gänzlich veränderten energiepolitischen Marktumfeld. Dazu trägt auch bei, dass es die Politik der EU-Kommission war und ist, langfristige Lieferbeziehungen durch Angebot und Nachfrage auf dem Spotmarkt zu ersetzen. Diese Politik sorgte für einige Jahre für niedrigere Preise für die Konsumenten, bevor dieser Ansatz im Rahmen der europäischen Energiekrise spektakulär scheiterte.
Eine Rückkehr zur alten Welt langfristiger Verträge zur Lieferung von Gas per Pipeline ist mit der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines für weite Teile Europas nicht mehr möglich, die nun der hohen Volatilität des Marktes für per Tankschiff transportiertem LNG-Flüssiggas ausgesetzt sind. Die zusätzliche Nachfrage der Europäer sorgt grundsätzlich für Knappheit im Markt für Flüssiggas. Eigentlich müssten die Notierungen aktuell wieder deutlich steigen, sorgt doch ein Arbeitskampf in australischen LNG-Werken dafür, dass dem Weltmarkt bis zu 11% das Angebots entzogen werden könnten. Dies betrifft zwar vornehmlich asiatische Kunden, die jedoch wegen des Ausfalls in Konkurrenz zu europäischen Kunden treten könnten. Zudem gibt es aktuell technische Probleme in einen LNG-Werken in Freeport in den USA, das für ein Fünftel des gesamten amerikanischen Angebots steht.
Dass insbesondere auch der europäische Markt so entspannt auf diese zumindest kurzfristig relevanten Ereignisse reagiert, liegt daran, dass die europäischen Erdgasspeicher mit einem Füllstand von 94% ungewöhnlich gut gefüllt sind — ein Ergebnis unter anderem des vergangenen milden Winters, der dafür sorgte, dass Erdgas trotz des Ausfalls der russischen Pipelines mehr als ausreichend vorhanden war. Analysten und die Bundesnetzagentur warnen zwar, dass sich die Situation rasch ändern könnte, falls es diesmal zu einem harten Winter kommt. Und sie weisen darauf hin, dass sowieso zum Winter hin ein Anstieg der Gaspreise zu erwarten sei. Davon ist bis jetzt allerdings nicht viel zu erkennen und auch der TTF-Kontrakt zur Lieferung im Februar befindet sich mit 51 Euro je Megawattstunde auf einem nach wie vor moderaten Niveau.
Verhaltene Asien-Nachfrage
Ein wichtiger Grund für die niedrigen Preise ist die verhaltene Nachfrage aus Asien, die unter anderem auf den Wechsel zu anderen, günstigeren Energieträgern wie Kohle, aber teilweise auch auf schwache Konjunktur vor allem in China zurückzuführen ist. Es gibt aber noch einen weiteren zentralen Grund: Die Deindustrialisierung Deutschlands als der wichtigsten Volkswirtschaft der EU sowie auch anderer Länder und Branchen innerhalb Europas sorgt bereits für einen deutlichen Rückgang des Gasverbrauchs. So geht der Marktbeobachter S&P Global Commodity Insights davon aus, dass der Gasverbrauch der gesamten europäischen Industrie im laufenden Jahr voraussichtlich um etwa 20% unterhalb des Niveaus von 2021 bleiben wird. Der Industrie macht die Schwäche der Konsumnachfrage in Europa zu schaffen sowie die Tatsache, dass auch die aktuell vergleichsweise niedrigen Energiepreise immer noch um rund zwei Drittel höher sind als vor dem Beginn der Energiekrise. Viele energieintensive Branchen können dieses Niveau der Energiepreise langfristig nicht schultern. So geht der Verband der chemischen Industrie VCI davon aus, dass die deutsche Chemieproduktion im laufenden Jahr um 11% einbrechen wird, deutlich mehr als in Gesamteuropa mit 8%. Herrschte bis vor kurzem am Markt die Angst vor neuen umfangreichen Preisschubs vor, wird nun erwartet, dass die Nachfrage nach Erdgas in Europa nie wieder das Niveau von vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs erreichen wird. Auch könnte der Verbrauch der privaten Haushalte zurückgehen, plant der Bundesfinanzminister doch, die im Rahmen der Krise eingeführte Ermäßigung der Mehrwertsteuer auf Erdgas wieder abzuschaffen. Aktuell weist Deutschland innerhalb der EU bereits die schlechte Konjunkturentwicklung auf. Deutschland ist also das Land, dass am stärksten unter den westlichen Sanktionen gegen Russland leidet. Für das laufende Jahr wird von der EU-Kommission mit einem Rückgang des deutschen Bruttoinlandsproduktes um 0,4% gerechnet, während für die gesamte EU noch ein Anstieg um 0,8% erwartet wird.
Eines ist dabei klar: Die von der EU angestrebte Entwöhnung von russischen Energieträgern ist grandios gescheitert. So hat die Umweltschutzorganisation Global Witness errechnet, dass die EU-Länder gegenwärtig rund 52% des russischen LNG-Flüssiggases aufkaufen — mit steigender Tendenz. Russland bleibt damit der wichtigste Lieferant für die EU, nur eben nicht mehr von preisgünstigem Pipeline-Erdgas. Ähnliches lässt sich für russisches Erdöl sagen, dass von der EU über Indien im großen Stil importiert wird.
