Uwe Burkert

„Die Hausse nährt die Hausse“

Nach Einschätzung des LBBW-Chefvolkswirts Uwe Burkert haben die Aktienmärkte noch Luft nach oben. Die EZB könnte noch mal nachlegen. Green und Sustainable Finance wird seiner Ansicht nach für Investoren immer wichtiger.

„Die Hausse nährt die Hausse“

Kai Johannsen.

Herr Burkert, die Aktienmärkte dies- und jenseits des Atlantiks sind auf Rekordjagd und die Bewertungen damit schon recht anspruchsvoll geworden. Wie geht es weiter: anhaltender Gipfelsturm oder baldiger Rücksetzer?

Die Aktienmärkte bekommen aktuell die zweite Luft. Die erste Luft kam und kommt von den Zentralbanken, die nicht müde werden, die Finanzierungsbedingungen als Maßstab für ihre Geldpolitik zu betonen. Die zweite Luft kommt vom Normalisierungstrade, meines Erachtens gut begründet auf dem globalen Impferfolg. Die dritte Luft könnte das sein, was man mit „Die Hausse nährt die Hausse“ bezeichnet – und in Form von erfolgreichen IPOs schnell zu spekulativem Überschwang führen kann, was die Märkte dann zunächst noch weiter antreiben dürfte.

Der Großteil des Optimismus an den Märkten gründet sich auf die angelaufenen Impfkampagnen, bei denen es immer wieder zu Rückschlägen in Form von Aussetzungen aufgrund von gesundheitlichen Gefahren kommt. Wie groß ist Ihr Konjunkturoptimismus derzeit noch?

Global gesprochen, sehr groß. Nach der Konjunkturlokomotive China übernehmen die USA mit einem von uns erwarteten Wachstum 2021 von 7,5% ebenfalls eine große Traktion in der globalen Nachfrage und regen nicht nur den Konsum, sondern perspektivisch auch die Investitionsgüternachfrage massiv an. Beide Länder haben in der Zwischenzeit durch Impfen und massive Einreisebeschränkungen eine hohe Corona-Resilienz ihrer Wirtschaft entwickelt. In Europa hingegen ist alles recht fragil, was sich ja am außergewöhnlich breiten Spektrum der aktuellen Konjunkturprognosen für 2021 zeigt. Hier ist wirklich noch alles möglich, zum Guten wie zum Schlechten. Aber es sollte in den nächsten Monaten nicht mehr am fehlenden Impfstoff liegen. Da werden wir enorme Liefermengen erwarten dürfen.

Welche Branchen sollten am stärksten von der erhofften Konjunkturerholung profitieren, wo ist der Nachholbedarf am größten?

Es sind drei Wellen zu erwarten: Die erste Welle umfasst die Branchen, die von der guten Konjunkturlage in China und den USA profitieren, hier z.B. Automobil- und Maschinenbau, aber auch die Chemie, Grundstoffe und Rohstoffe – die klassischen Zykliker. Dann die zweite Welle, die schnell vom Impf- und Öffnungsfortschritt profitiert. Darunter fallen Tourismus, Verkehr, Einzelhandel, Gastronomie, kurz gesagt die Lockdown-Opfer. Die dritte Welle wird die Investitionsgüter, Telekomausrüster, „Nachhaltigkeitsausrüster“ tragen, da alle großen Konjunktur- und Infrastrukturprogramme diesem Aspekt eine maßgebende Bedeutung beimessen.

Welche Branchen sollten Aktieninvestoren lieber meiden?

Bei der Branchenallokation kommt es immer auch auf den Horizont der Anleger an. Kurzfristig – auf Sicht der nächsten Monate – sehen wir wenig Potenzial für die Pharmabranche. Das liegt vor allem an den gestiegenen Bewertungen und den jüngsten Gewinnabwärtsrevisionen. Langfristig befindet sich der Gesundheitsmarkt weltweit allerdings auf einem stringenten Wachstumspfad, der die Branche künftig auch wieder in den Fokus der Investorenschar rücken sollte. Ebenso raten wir derzeit von der Medienbranche ab. Neben einem eingetrübten Gewinnbild sprechen auch die im Branchenvergleich nicht mehr so starken Dividendenperspektiven gegen ein Investment in den Sektor.

Wie sind Ihre Prognosen für den Dax per Ende Juni und Ende Dezember 2021?

Wir sind sehr konstruktiv für den Dax, obwohl wir Ende Juni 2021 15000 Punkte erwarten. Denn im Hinblick auf eine Normalisierung im zweiten Halbjahr und einen neuen Schwung in 2022 erwarten wir den Dax per Ende 2021 bei 16000 Punkten und zur Jahresmitte 2022 bei 16500 Punkten.

Im Zuge des Konjunkturoptimismus gehen viele Marktteilnehmer auch von einem verstärkten Anziehen der Inflation aus. Wie ist Ihre Inflationserwartung insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass es zu Einmaleffekten kommen wird?

Zunächst bleibt festzuhalten, dass die Inflation nicht tot ist. Aber es ist auch klar, dass beschleunigte Inflation massive Angebots-/Nachfrageverzerrungen voraussetzt. Wir sehen solche aktuell bei vielen Basisgütern, Rohstoffen, Speicherchips, ja sogar bei Bauholz. Konjunkturprogramme – zeitlich befristet, stark fokussiert – können dazu führen, dass die Nachfrage sprunghaft steigt, und das Angebot nicht gleichermaßen Schritt hält. Wenn dies zu Zweitrundeneffekten führt, die dazu noch über entsprechendes Geldmengenwachstum alimentiert werden, zieht die Inflation an. Doch so weit sind wir noch lange nicht.

Am Rentenmarkt wurde im Zuge der Reflationierungserwartungen der Reflation Trade aufgesetzt. Läuft er im Jahresverlauf aus oder wird er noch prominenter?

Die Reaktionen am Rentenmarkt zeigen, dass die Positionierungen zu einseitig waren. Die Erwartung war, dass die Kurse nur steigen können, die Inflation kein Thema ist und die Notenbanken noch sehr, sehr lange expansiv bleiben. Doch schauen wir uns die Situation näher an, so hatten wir schon vorher mit negativen Realzinsen eine Reflationierung. Und wir haben nach Jahren verfehlter Inflationsziele veränderte Sichtweisen der Notenbanken auf die Inflation. Hinzu kommen neue geldpolitische Strategieansätze der führenden Notenbanken. Daher ist es meines Erachtens falsch, in historischen Reaktionsmustern zu denken und danach zu handeln.

EZB-Präsidenten Christine Lagarde hat wiederholt klargestellt, dass die günstigen Refinanzierungsbedingungen im Euroraum erhalten werden. Legt die EZB noch mal nach?

Ja, wenn nicht über Volumen, so doch über die Dauer. Und wahrscheinlich auch noch stärker in der Ausrichtung auf die Unterstützung des Green Deals der EU-Kommission. Wir dürfen die politische Diskussion in Europa nicht aus den Augen verlieren. Wir bekommen im September definitiv eine neue Bundesregierung, die Konstellation wird sich stark verändern. Aber wir schauen auch schon nach Frankreich, wo Präsident Macron über sich und seine Politik den Wählern Rechenschaft ablegen muss. Wir sind in Europa institutionell weiter als zu seiner Wahl, aber immer noch anfällig, was das Thema Handlungsfähigkeit und Umsetzungsgeschwindigkeit angeht. Und ohne einen reibungslos funktionierenden deutsch-französischen Motor war und ist es schwierig, in Europa Veränderungen zu gestalten. Und auch dies wird die EZB im Blick haben müssen. Daher wird sie immer auch noch eher expansiv eingestellt sein.

Wo sehen Sie die zehnjährige Bundrendite per Jahresmitte und per Jahresende 2021?

Zur Jahresmitte erwarten wir die zehnjährige Bundrendite bei −0,30%, zum Jahresende 2021 ebenfalls bei −0,30%, zur Jahresmitte 2022 etwas höher bei −0,20%.

Und wo sehen Sie die zehnjährige US-Staatsanleiherendite Mitte und Ende dieses Jahres?

Das US-Pendant erwarten wir Mitte dieses Jahres bei 1,75%, zum Jahresende bei 1,60% und zur Jahresmitte 2022 bei 1,90%.

Vor dem Hintergrund des anhaltend Niedrigzinsumfeldes werden sich die Unternehmen weiter zu sehr günstigen Konditionen Fremdmittel beschaffen können. Wird 2021 wieder ein Rekordjahr in Sachen Bondemissionen?

Das ist nicht zu erwarten. Die Unternehmen haben sich im Jahr 2020 mit einem Rekordvolumen an neuen Bonds eingedeckt und ihre Cash-Reserven aufgestockt. Für 2021 rechnen wir mit einem deutlich geringeren Bedarf an Neuemissionen. Das Volumen dürfte gleichwohl auf einem hohen Niveau oberhalb von 400 Mrd. Euro bleiben. Dafür sprechen die günstigen Refinanzierungskonditionen und ein vermutlich anhaltender Fokus auf Cash, eventuell auch schon im Hinblick auf künftig steigende Investitionen und M&A-Aktivitäten. Die Bondfälligkeiten klettern 2021 auf 262 Mrd. Euro und 2022 auf 282 Mrd. Euro. Das Netto-Neuemissionsvolumen dürfte 2021 gegenüber dem 2020er-Rekordvolumen – netto 253 Mrd. Euro – zurückgehen. Zudem gibt es mit den staatlichen Konjunkturprogrammen auch viele Förderprogramme, die alternativ zu den Anleihemärkten genutzt werden dürften. Aber der konjunkturelle Aufholprozess, die Investitionserfordernisse und die günstigen Konditionen lassen dennoch ein hohes Emissionsvolumen wahrscheinlich werden.

Welche Branchen haben den stärksten Refinanzierungsbedarf, wer ist schon gut versorgt?

Es sind nach wie vor die Branchen Versorger, Öl und Gas sowie Automobil, die kräftig den Kapitalmarkt genutzt haben und auch nutzen. Trotz guter Versorgung ist hier aber durchaus noch Luft für weitere Emissionsaktivitäten.

Welche Rolle spielen Green, Social und Sustainability Bonds in diesem Umfeld?

Eine immer entscheidendere, weil immer mehr Investoren nach ESG-Kriterien anlegen müssen bzw. wollen. Es erinnert ein bisschen an die Entstehungsjahre des Credit Marktes nach der Einführung des Euro, als wir eine sehr kreative, innovative Phase an den Anleihemärkten hatten. Eine ähnliche Entwicklung sehe ich jetzt. Noch befinden wir uns in der Experimentierphase. Doch im Unterschied zu damals gibt es mit der EZB, aber auch den großen supranationalen Emittenten EU-Kommission und EIB auf Nachfrage- und Angebotsseite große Player, die ein sehr starkes Interesse an einheitlichen Kriterien haben. Ich erwarte daher eine rasante Standardsetzung und Marktfestigung. Auch analytisch wird es sehr schnell gehen.

Kleinere und mittlere Unternehmen sind sehr starken Belastungen ausgesetzt, insbesondere wenn es zu fortgesetzten Lockdowns kommt. Wie groß ist die Gefahr einer Pleitewelle bei den KMU?

Pleitewellen sind extrem unbeliebt. Und daher war es Teil der Pandemie-Krisenpolitik, Insolvenzen und große Firmenzusammenbrüche weitestgehend zu vermeiden. Das war bislang recht erfolgreich. Jetzt muss allerdings der Strukturwandel in Deutschland gestaltet werden. Dazu braucht es aber stabile, mutige, innovative Unternehmen. Daher wird es nun darauf ankommen, die Unternehmen, die schon vor Corona nicht mehr wettbewerbsfähig waren, nicht länger mitzuschleppen, und denen, die nur durch Corona in Schwierigkeiten gekommen sind, eine Perspektive zu geben. Am besten gelingt das, wenn man mit dem Impffortschritt wieder mehr Markt zulässt. Das ist übrigens auch meine Empfehlung an die Politik für die Zeit nach der Krise: Weg vom Mikromanagement und detailverliebter Regelungswut, hin zu klaren strategischen Visionen und Vorgaben, deren Umsetzung marktwirtschaftlich effizient organisiert wird.

Das Interview führte