LEITARTIKEL

Kaltstart in Vegas

Das Jahr 2020 hat kaum begonnen, und die deutsche Autoindustrie ist bereits in der Defensive. Auf der Konsumelektronikmesse CES in Las Vegas, die heute offiziell startet, spielt für die Branche mehr denn je die Musik. Die Automesse in Detroit wurde...

Kaltstart in Vegas

Das Jahr 2020 hat kaum begonnen, und die deutsche Autoindustrie ist bereits in der Defensive. Auf der Konsumelektronikmesse CES in Las Vegas, die heute offiziell startet, spielt für die Branche mehr denn je die Musik. Die Automesse in Detroit wurde mangels Anklang in den Juni verschoben. Ferne Zukunftsmusik dürfte in der Glücksspielmetropole allerdings seltener angespielt werden als zuletzt. Das Konzert der Großen – sowohl auf Zulieferer- als auch auf Herstellerseite – setzt mehr darauf, den richtigen Ton für die Gegenwart zu treffen. Der weltgrößte Autozulieferer Bosch etwa zeigt eine digitale Sonnenblende namens “Virtual Visor”, die erkennt, wo der Fahrer geblendet wird und diesen dort gezielt vor der Sonne abschirmt. Das Produkt belegt zum einen, dass Zulieferer versuchen, mit innovativen, kostspieligen Fahrzeugteilen Wertschöpfungsanteile zu gewinnen, die durch die Elektrifizierung an anderer Stelle wegzubrechen drohen. Zum anderen zeigt es auch, dass mit dem vollautonom gesteuerten Premiumfahrzeug noch auf Jahre nicht gerechnet wird. Denn fährt erst der Computer, dürfte die Sonnenblende eine rapide sinkende Bedeutung erfahren.Der Virtual Visor ist nur eine von mehreren Anwendungen mit künstlicher Intelligenz (KI), die Bosch in Las Vegas präsentiert. Daneben wird zum Beispiel die intelligente Innenraumbeobachtung gezeigt, die abgelenkte oder ermüdende Fahrer erkennen soll – ein Fahrassistenzsystem, das unmittelbar Anwendung finden kann. Bei fortgeschrittenen Fahrassistenzsystemen rückt zunehmend die Machbarkeit ins Zentrum. Innovationspreise gibt es etwa für das chinesische Unternehmen Robosense sowie das Münchner Start-up Blickfeld, die beide preislich günstige Lidar-Sensoren versprechen. Auch bei den Fahrzeugherstellern dreht sich der CES-Auftritt zunehmend um Innovationen, die nah an der Marktreife sind und damit zeitnah Erlöse und Deckungsbeiträge versprechen.Nach einem Jahr, das in der deutschen Autoindustrie geprägt war von Prognosesenkungen und Sparprogrammen, verspricht auch 2020 schwierig zu werden. In Europa muss der Anteil der E-Autos am Absatz rasant steigen, um die strengeren Flottengrenzwerte für die CO2-Emissionen zu erfüllen. Dies soll weitgehend ohne ein noch einmal beschleunigtes Abschmelzen der Marge geschehen. Ein Großteil der Anlaufkosten für den Umbau der Produktion auf batterieelektrisch angetriebene Pkw steht dabei im laufenden Jahr noch an. Dass Europas Autofahrer bald bereit sind, in Massen in ein E-Auto statt in einen Verbrenner einzusteigen, ist bislang nur eine vage Hoffnung.In Deutschland wird zwar mit hohen E-AutoPrämien gelockt und in den skandinavischen Ländern bereits auf eine hervorragende Infrastruktur gebaut. Im mediterranen Raum führt indes kaum ein Weg an Ottomotor oder Selbstzünder vorbei. Und bei den potenziellen Käufern von E-Autos ist der Rückstand der deutschen Hersteller in der Wahrnehmung ohnehin noch enorm. Tesla hat allein im vierten Quartal so viele E-Autos abgesetzt, wie Volkswagen mit dem ID.3 im ersten vollen Jahr in etwa zu verkaufen hofft – und die Wolfsburger beginnen mit den Auslieferungen erst im Sommer. Bis dahin dürfte der US-Konkurrent eine weitere sechsstellige Zahl an Autos in den Markt geliefert haben. Der Rückstand wächst also weiter. Denn von den Kunden, die in den nächsten Monaten ein Model 3 von Tesla erwerben werden, dürften die allermeisten für einen ID.3 als Käufer erst einmal ausfallen.——Von Sebastian SchmidDie deutsche Autoindustrie steht vor einem Transformationsjahr. Zur Herausforderung der Elektrifizierung kommt neue Konkurrenz in China dazu.——