GASTBEITRAG

Keine Angst vor unruhigen Zeiten

Börsen-Zeitung, 6.12.2017 Keine Frage: Schwankungsarme Zeiten haben in den Augen vieler Anleger Charme. Selten war es so einfach wie zuletzt, das Kapital mit einem Investment in Aktien oder Anleihen zu vermehren. Die Preise für Risikoanlagen in der...

Keine Angst vor unruhigen Zeiten

Keine Frage: Schwankungsarme Zeiten haben in den Augen vieler Anleger Charme. Selten war es so einfach wie zuletzt, das Kapital mit einem Investment in Aktien oder Anleihen zu vermehren. Die Preise für Risikoanlagen in der Eurozone scheinen geradezu unaufhörlich zu klettern, während die Europäische Zentralbank einen negativen Leitzins vorgibt und gleichzeitig mit dem Ankauf von Anleihen im Volumen von mittlerweile 2 300 Mrd. Euro die verbliebenen Renditen im Markt abräumt. Aberwitzige AuswirkungenNoch zu Zeiten üppiger Zinsen haben Versorgungseinrichtungen ihren Anwärtern großzügige Renditeversprechen gegeben. In gleichem Maße wie sich die Substanz ihrer Investments aus dem schwindenden Restbestand hochverzinslicher Anleihen aufzehrt, werden sie nun gezwungen, in risikoreichere Anlagen zu investieren, um den notwendigen Rechnungszins zu erwirtschaften. Die Auswirkungen sind mitunter aberwitzig. So konnte Österreich eine 100-jährige Anleihe mit einem Kupon von lediglich 2,1 % platzieren. Selbst wenn Österreich nicht an seine Tradition vergangener Staatspleiten seit den Napoleonischen Kriegen anknüpft, so bergen derartige Methusalem-Papiere mit fixem Kupon hohe Kursrisiken, sollte sich das Zinsniveau oder die Bonitätsbeurteilung ändern. Und trotzdem werden solche Papiere derzeit über das Angebot hinaus nachgefragt und sie verzeichnen sogar Kursgewinne. Offenbar haben die Notenbanken mit ihren Geldspritzen das Gefühl der Investoren für Risiko betäubt.Man sollte sich von der apodiktischen Vorstellung fortwährender Kurssteigerungen und historisch niedriger Volatilität nicht einlullen lassen. Je weniger Kursausschläge es an den Börsen gibt und je länger dieser Zustand anhält, desto sorgloser verhalten sich Anleger. Das gilt für aktive institutionelle Investoren und passive Indexprodukte gleichermaßen. Sie nutzen ähnliche Risikomodelle, die auf dem Value-at-Risk-Konzept basieren und die es ihnen erlauben, höhere Risiken einzugehen, solange die Kursschwankungen niedrig sind. Dabei unterstellen die Modelle liquide Märkte, in denen sich die eigenen Investments ohne wesentlichen Einfluss auf den Marktpreis verkaufen oder absichern lassen. Und sie gehen von Ereignissen aus, die sich in der unmittelbaren Zukunft genauso verhalten werden, wie sie sich in der Vergangenheit verhalten haben. Beide Annahmen sind ein Irrglaube. Kommt es an den Märkten zu einem Schock, dem in der Börsengeschichte noch immer eine entspannte Phase niedriger Kursausschläge vorausgegangen war, dann drängt es alle zum Ausgang. Alle wollen gleichzeitig verkaufen. Und selbst die unkorrelierten Vermögenswerte korrelieren plötzlich. Überraschende AuslöserWas den nächsten Schock auslösen wird, lässt sich seriös nicht prognostizieren. Es kann ein jedwedes überraschendes Ereignis sein, das in einem haussierenden Marktumfeld die Kauflaune abrupt beendet. 1987 genügte für den Schwarzen Montag eine Abwertung des US-Dollars, 2008 mündete die Pleite von Lehman Brothers in eine globale Finanzkrise, und 2016 erschütterte das Referendum über das Ausscheiden von Großbritannien aus der Europäischen Union die Börsen. Interessanterweise ist gerade Panik an den Märkten ein idealer Begleiter, um Stress für den eigenen Anlageerfolg zu vermeiden – vorausgesetzt, man lässt sich durch die Nervosität am Markt nicht selbst verunsichern. Je nachdem, wie gut es mit Hilfe einer robusten Beurteilung des makroökonomischen Weltbilds gelingt, die Stärke und Länge eines Volatilitätsschocks einzuschätzen, kann man ihn ausnutzen, um Kapital zu attraktiven Konditionen zum Arbeiten zu bringen. Er eröffnet die Möglichkeit, dort zu investieren, wo es hervorragende Ertragsaussichten bei überschaubaren Risiken gibt. Denn auch Aktien von erstklassigen Unternehmen geraten in turbulenten Börsenphasen kurzfristig in den Sog des breiten Marktes und bieten dann entsprechend attraktive Bewertungen.Ein Meister, wenn es darum geht, mit der Geduld eines Krokodils auf einen solchen Kaufzeitpunkt zu lauern, ist Warren Buffett. Denn, so der legendäre Value-Investor aus den USA, dass die Menschen gierig, ängstlich oder verrückt handeln, ist vorhersehbar, die Reihenfolge nicht. Der entscheidende Faktor für den Erfolg einer Value-Strategie liegt folglich in der richtigen Titelauswahl und in der Wahl des richtigen Kaufzeitpunkts. Wer heute unbedarft schwache Geschäftsmodelle kauft, wird vielfach einen zu hohen Preis bezahlen. Es gilt vielmehr, neben dem Fundamentalrisiko auch das Marktpreisrisiko zu reduzieren. Value bedeutet, den Barwert der zukünftigen freien Cash-flows mit einem großen Abschlag zu erwerben. Entsprechend der Philosophie von Warren Buffett: der Kauf eines hervorragenden Geschäftsmodells und eines erstklassigen Managements zu einem attraktiven Preis. Manchmal dauert es nur sehr lange, und häufig unter starken Schwankungen, bis sich der Preis so entwickelt, wie man es sich vorgestellt hat. Vielversprechend ist deswegen der Blick auf unternehmensspezifische Ereignisse, die entweder den Börsenkurs beflügeln oder aber das Abwärtsrisiko begrenzen, weil sie die Preis-Wert-Relation einer Aktie oder Anleihe positiv verändern. Solche Ereignisse können zum Beispiel operative Katalysatoren wie eine spezielle Wachstums- und Margendynamik sein, aber auch Aktienrückkäufe auf einem niedrigen Bewertungsniveau, Kapitalerhöhungen oder Fusionen und Übernahmen.Die Übernahme von Stada bot im Sommer eine solche Gelegenheit. Das Traditionshaus aus Bad Vilbel mit Marken wie Grippostad, Mobilat und Paracetamol war ins Visier mehrerer Finanzinvestoren geraten. Nach wochenlangem Bieterwettstreit schien alles für eine erfolgreiche Übernahme zu 66 Euro pro Aktie zu sprechen. Doch das Angebot von Bain Capital und Cinven scheiterte zunächst an der Mindestannahmeschwelle, auch aufgrund technischer Faktoren bei Indexfonds. Die darauf einsetzende kurzfristige Enttäuschung bot dann eine ideale Einstiegsgelegenheit zu Kursen unter 60 Euro. Denn das Ziel der Übernahme blieb auf allen Seiten bestehen, und etliche Signale sprachen für einen schnellen zweiten Anlauf. Tatsächlich gelang bereits kurz darauf die Übernahme – zu einem nochmals leicht erhöhten Preis von 66,25 Euro pro Aktie. Binnen weniger Wochen ließen sich bei geringem Risiko 10 % Rendite erwirtschaften.Auch Warren Buffett selbst steuert mit seiner Investmentholding Berkshire Hathaway ein anschauliches Beispiel für eine attraktive Kombination aus Value und Event bei. Hinsichtlich Geschäftsmodell und Management bestehen keine Zweifel am Value-Charakter; zumal der faire Wert und der Buchwert schon allein durch das immense Prämienvolumen aus den Versicherungssparten und den steigenden Gewinnen von mittlerweile 90 operativen Gesellschaften, aber auch dank der klugen Kapitalallokation kontinuierlich und mit vergleichsweise hoher Rate wachsen. Dabei liegt der faire Wert, der sich aus einer erstmals im Jahr 2010 von Buffett selbst veröffentlichten Anleitung zur näherungsweisen Berechnung ergibt, deutlich über dem aktuellen Kurs der Aktie. Hinzu kommt eine Event-Komponente, die das Investment noch charmanter macht: Weil Berkshire Hathaway eigene Aktien zu einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von maximal 120 %, und damit im Falle einer Unterbewertung, zurückkauft, ist der Kurs nach unten gewissermaßen abgesichert. Das Rückkaufversprechen wirkt wie ein regelmäßig nachgezogenes Sicherheitsnetz und ist daher gleichzeitig ein Katalysator für die künftige Kursentwicklung. Sollte der Börsenkurs auf das Rückkaufniveau zurückfallen, so wäre in diesem Augenblick das Risiko nach dem Value-at-Risk-Konzept größer als vor dem Kursrückgang. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Je mehr Aktien Warren Buffett mit Abschlag auf den fairen Wert zurückzukaufen imstande ist, desto größer ist der Wertzuwachs für die nicht zurückgekauften Aktien. Das Chance-Risiko-Profil würde sich folglich durch den Kursrückgang nicht verschlechtern, sondern verbessern.Wer seinen Standort kennt, braucht vor Volatilität und unruhigen Zeiten keine Angst zu haben. Manchmal sollte man dafür die Augen schließen, um besser sehen zu können, wusste schon der Börsenaltmeister André Kostolany zu berichten.—-Uwe Rathausky, Fondsmanager von Gané