Im InterviewChristoph Rieger

"Lagarde hat Tür für Pause im September weit geöffnet"

Nach Ansicht von Zinsexperte Christoph Rieger, Commerzbank, hat EZB-Chefin Christine Lagarde nun die Tür für eine Zinspause im September weit geöffnet. Der Autopilot für Zinsanhebungen dürfte damit erstmal abgeschaltet sein.

"Lagarde hat Tür für Pause im September weit geöffnet"

IM INTERVIEW: CHRISTOPH RIEGER

“Lagarde hat Tür für Pause im September weit geöffnet”

Zinsexperte: Konjunkturprojektionen werden deutlich nach unten korrigiert – Teuerungsrate am Jahresende wohl unter 3 Prozent – Bundrenditen fallen leicht

Christoph Rieger, Zinsexperte der Commerzbank, sieht durchaus die Möglichkeit, dass die Europäische Zentralbank (EZB) im September zur Zinspause übergeht. Im Interview der Börsen-Zeitung geht er auf die aktuelle Wachstums- und Inflationssituation der Eurozone ein, aber auch auf die Schuldentragfähigkeit von Staaten, auch der USA.

Das Interview führte Kai Johannsen.

Herr Rieger, was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse aus der Sitzung des EZB-Rates in der vergangenen Woche?

Die EZB hat den Autopilot abgeschaltet. Bislang war in dem aktuellen Zinserhöhungszyklus stets klar, dass die nächste Zinserhöhung bei der nächsten Sitzung erfolgt. Frau Lagarde hat die Tür nun für eine Pause im September weit geöffnet, d.h. es wird von den Daten abhängen, ob die Zinsen im September weiter angehoben werden.

Mit welcher Gangart der EZB in der Zinspolitik rechnen Sie ab September?

Wir gehen davon aus, dass die EZB im September ihre Konjunkturprojektionen deutlich nach unten korrigieren muss. Von daher dürfte sich die Mehrheit im Rat für eine Pause aussprechen, die dann letztendlich sehr lange andauern könnte.

Zudem hat die EZB beschlossen, die Mindestreserve-Verzinsung für die Banken ab September auf 0% zu senken. Was steckt dahinter?

Die offizielle Begründung der EZB für diesen Schritt ist schwer nachzuvollziehen. Sie führt an, dass sie die “Wirksamkeit der Geldpolitik bewahren” und die “Kontrolle über den geldpolitischen Kurs beibehalten” will. Dazu wäre dieser Schritt aber nicht notwendig gewesen. Letztendlich ist vermutlich entscheidend, dass man weniger an die Banken zahlen will, sofern das ohne wesentliche negative Auswirkungen möglich ist. Dennoch bleibt unklar, warum die EZB diese Änderung jetzt vornimmt, ein halbes Jahr bevor sie die Überprüfung ihres geldpolitischen Handlungsrahmens abschließen will.

Und wie sieht es mit der EZB-Bilanz aus? Wann ist mit einem beschleunigten Abbau der Anleihebestände zu rechnen?

Es gibt gute Gründe, weshalb die EZB überlegen sollte, die vollständigen Reinvestitionen in ihrem PEPP-Anleiheportfolio vor dem avisiertem Datum Ende 2024 einzustellen. Die Renditespreads sind relativ eng, die Renditekurven sind sehr flach oder invers und der Angebotsdruck ist bei vielen Emittenten rückläufig. Diskussionen über einen schnelleren Bilanzabbau sollten daher im EZB-Rat stattfinden. Es bleibt allerdings fraglich, inwiefern sich dafür eine Mehrheit findet, da sich einige Ratsmitglieder Sorgen machen, dass man ohne die PEPP-Reinvestitionen nicht mehr so leicht die Peripherieländer bei Bedarf stützen könnte.

Die Konjunktursignale für Deutschland und die Eurozone werden düsterer. Mit welcher wirtschaftlichen Entwicklung in den kommenden sechs bis zwölf Monaten rechnen Sie in Deutschland und der Eurozone?

Wir gehen davon aus, dass die Wirtschaftsleistung sowohl in Deutschland als auch in der Eurozone im zweiten Halbjahr schrumpfen wird. Unsere Volkswirte rechnen zwar nur mit einer relativ milden technischen Rezession. Die Prognosen stehen jedoch im deutlichen Widerspruch zu den EZB-Projektionen und den Erwartungen vieler anderer Häuser, die in der zweiten Jahreshälfte mit einer Belebung der Wirtschaftsaktivität rechnen.

Welche Inflationsprognose für den Euroraum haben Sie?

Die Gesamtteuerungsrate dürfte bis zum Jahresende unter 3% fallen. Bei der Kernrate dürften wir auch den Hochpunkt hinter uns haben, und im September ist mit einem spürbaren Rückgang durch Sondereffekte zu rechnen. Die unterliegende Teuerung sollte jedoch länger auf erhöhten Niveaus bleiben, so dass wir auch längerfristig nicht damit rechnen, dass die EZB ihr Inflationsziel von 2% erreicht.

Werden diese Entwicklungen die EZB dann zu Zinssenkungen veranlassen?

Die enttäuschenden Wachstumsraten und der deutliche Rückgang der Gesamtinflationsrate sind wichtige Gründe dafür, dass die EZB die Zinsen im weiteren Jahresverlauf nicht weiter anheben dürfte. Für Zinssenkungen reicht das jedoch nicht aus. Auch im kommenden Jahr dürfte die hartnäckige Inflation verhindern, dass die EZB die Zinsen senkt, wie es die Terminsätze momentan noch erwarten.

Wo sehen Sie die zehnjährige Bundrendite am Ende dieses Jahres und Mitte 2024?

Am Jahresende rechnen wir mit 2,2%, Mitte 2024 sehen wir sie dann nur geringfügig höher.

Die Zinsen bzw. Anleiherenditen sind seit geraumer Zeit deutlich erhöht. Schuldenstände in der Eurozone steigen immer weiter. Sind diese Schuldenlasten in diesem Umfeld für die Staaten weiterhin tragbar?

Staatsschulden sind tragfähig, solange die Investoren darauf vertrauen, dass der Staat seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen kann. Bei inländischen Schulden kommt es nur selten zu Zahlungsausfällen, da die Zentralbank jederzeit Geld drucken kann, um die Schulden in der eigenen Währung zurückzuzahlen. Die Gläubiger tragen somit in erster Linie das Risiko einer Geldentwertung durch Inflation oder Wechselkursverluste. In der Eurozone sind allerdings die Ausfallrisiken durch den institutionellen Rahmen etwas höher.

Welche Staaten in der Eurozone sind gefährdet?

Die gute Nachricht ist, dass die Inflation das nominale BIP-Wachstum erhöht. Dies hat in den vergangenen zwei Jahren einen weiteren Anstieg der Schuldenquoten verhindert, obwohl die Verschuldung weiter zugenommen hat. Die schlechte Nachricht ist, dass das nominale BIP-Wachstum voraussichtlich sinken wird, während die durchschnittlichen Zinsen weiter steigen werden, selbst wenn die Renditen nicht weiter steigen, da Anleihen mit niedrigen Kupons gerollt werden müssen. Längerfristig steht Italien vor den größten Herausforderungen. Da Italien strukturell höhere Finanzierungskosten hat, ohne ein strukturell höheres BIP-Wachstum zu verzeichnen, ist der finanzpolitische Spielraum begrenzt. Angesichts der gestiegenen Schuldenquote seit der Pandemie wird ein höherer Primärüberschuss als in der Vergangenheit erforderlich sein, um die Schuldenquote bei einem gegebenen Abstand zwischen Zinsen und nominalem BIP-Wachstum zu stabilisieren. Italienische Staatsanleihen – BTPs – bleiben daher anfälliger für Stimmungsschwankungen der Investoren.

Wie sieht es mit Deutschland im Speziellen aus?

Bundesanleihen scheinen besser geschützt zu sein, da Finanzminister Lindner auf der Schuldenbremse beharrt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die deutschen Staatsausgaben auf einen höheren Pfad eingeschwenkt sind. Neben der Finanzierung des geplanten offiziellen Haushaltsdefizits von 16,6 Mrd. Euro muss die Finanzagentur auch im kommenden Jahr wieder Mittel für Sondervermögen aufnehmen, wie etwa rund 20 Mrd. Euro für die Bundeswehr und noch nicht näher spezifizierte Beträge für den Klima- und Transformationsfonds sowie den Wirtschaftsstabilisierungsfonds.

Wo sehen Sie in Ihren Szenarien die größten Risiken?

Zum einen könnten höhere Zinsen für einen längeren Zeitraum erforderlich sein, um die Inflation nachhaltig wieder auf 2% zu bringen. Wenn gleichzeitig das Wirtschaftswachstum einbricht, könnte der politische Wille zur Umsetzung der notwendigen Sparmaßnahmen und Strukturreformen auf die Probe gestellt werden – “fiscal fatigue”. Angesichts der historisch hohen Schuldenquote ist der Spielraum für Fehler daher vor allem in Italien gering.

Kommen wir zur US-Wirtschaft: Sehen Sie Anzeichen für eine Rezession in den USA?

Die US-Wirtschaft erweist sich als widerstandsfähig. Auch wenn die Anzeichen auf eine Verlangsamung der Wirtschaftsaktivität stehen, gibt es wenige Anhaltspunkte, dass eine Rezession unmittelbar bevorsteht.

Die US-Kurveninversion und ihre Aussagekraft in Sachen Konjunktur wird viel diskutiert und wird vielfach in Zweifel gezogen nach der Devise: Heute ist alles anders. Besitzt die Kurveninversion noch eine verlässliche Aussagekraft?

Jedem Zinserhöhungszyklus und jeder Kurveninversion seit mindestens den 1960er Jahren folgte eine Rezession. Die Treffsicherheit der Dreimonats-/Zehnjahres-Renditekurve liegt somit bei 100%, wobei die Kurve sogar die Rezession von 2020 vorhersagte, die allerdings eher durch die Pandemie als durch die Fed verursacht wurde.

Und wie sieht es mit den Indizien über den zeitlichen Ablauf von Inversion und Rezession aus?

Leider sind die Indizien für den zeitlichen Ablauf nicht so eindeutig. Milton Friedman kam in seiner Analyse der Konjunkturzyklen von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu dem Schluss, dass es wenig Erkenntnisse darüber gibt, ob die Zeitspanne zwischen Aktion und Wirkung 4 oder 29 Monate beträgt oder irgendwo dazwischen liegt’. Unsere Analyse der Rezessionssignale in den vergangenen 50 Jahren bestätigt auch, dass die Zeitabstände mitunter lang und variabel sind. Die meisten Signale deuten jedoch auf eine Rezession bis Mitte 2024 hin.

Und wie ist es um die Schuldentragfähigkeit der USA bestellt, und lassen sich Auswirkungen auf den US-Treasury-Markt daraus ableiten?

Die langfristigen Schuldenprojektionen für die USA sehen in der Tat am dramatischsten aus und haben zur Herabstufung des Ratings durch Fitch in dieser Woche geführt. Es lässt sich jedoch schwer vorhersagen, was eine Vertrauenskrise in US-Treasuries auslösen könnte, die zu deutlich höheren Renditen führen und eine fiskalische Kehrtwende erzwingen würde, wie es bei der britischen Gilt-Krise im vorigen Jahr der Fall war.

Das Interview führte Kai Johannsen.

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