Mario Draghi rockt die Börse
Von Gerhard Bläske, Mailand
Die Beauftragung Mario Draghis mit der Bildung einer neuen italienischen Regierung hat die Mailänder Börse beflügelt. Seit Ende Januar hat sie um 10% zugelegt. Nicht überraschend waren es vor allem Bankenwerte, die davon profitierten, dass nun der Ex-Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) die Regierung leitet. Intesa Sanpaolo und Unicredit haben seither um mehr als 20% zugelegt, Banco BPM sogar um 26,7%, was aber auch an Fusionsspekulationen liegt. Auch die Versicherung Generali verzeichnete einen Zuwachs von 17%. Die Finanzwerte profitierten von dem zeitweisen Rückgang des Zinsabstands (Spread) zwischen italienischen und deutschen Zehnjahresbonds auf unter 90 Basispunkte – den niedrigsten Wert seit 2015 – und den damit verbundenen günstigeren Finanzierungsbedingungen. Inzwischen haben die Zinsen wieder angezogen.
Riesiges Vertrauen
Aber kein Zweifel: Das Vertrauen und der Glaube in die Fähigkeiten Draghis sind riesig in Italien. Und nicht nur dort. Auch Analysten etwa von Morgan Stanley sehen einen „großen Moment für Italien und Europa“ und erwarten nun „Stabilität, Autorität und Kompetenz“ in der Regierungsarbeit. Es bestünden gute Chancen, dass Italien die Mittel des europäischen Aufbauprogramms in effizienter Weise ausgebe. Neben den Banken dürften etwa der Autokonzern Stellantis, der Kabelproduzent Prysmian, der Energieversorger Enel, Telecom Italia (TIM) und der Land- und Baumaschinenkonzern CNH Industrial, dessen Kurs seit dem 29. Januar um 25,2% gestiegen ist, von den geplanten Investitionen in Schienen, Straßen, ein Glasfasernetz, den Umbau der Energieversorgung und die Digitalisierung profitieren. Draghi, der mit einer sehr breiten Großen Koalition aus Links- und Rechtsparteien regiert, ist der Einzige, dem man zutraut, dass er die seit mehr als 20 Jahren stagnierende Entwicklung im Land umkehren kann.
Die Börse will bei der Finanzierung des Aufschwungs und der Unternehmen eine wichtige Rolle spielen. Im Vergleich zu anderen Ländern hat sie bisher nur eine untergeordnete Rolle in der Wirtschaft des Landes: Die meisten Unternehmen finanzieren sich durch hohes Eigenkapital oder über Bankkredite. Und der Großteil des sehr üppigen Privatvermögens der Italiener wird außerhalb des Heimatlandes angelegt. Weitere 1700 Mrd. Euro schlummern auf Bankkonten. Diese Summe zu mobilisieren und mehr Italiener zur Anlage in Italien zu veranlassen, ist das Ziel von Raffaelle Jerusalmi, Chef der Mailänder Böse. Er beklagt, dass nur 5% der institutionellen Investoren, die an der Mailänder Börse investiert sind, aus Italien kommen.
Niedrige Kapitalisierung
Mit nur 235 Unternehmen im Hauptmarkt und insgesamt 367 börsennotierten Gesellschaften kommt die italienische Börse auf eine Marktkapitalisierung von knapp 660 Mrd. Euro. Das ist wenig im Vergleich zur Deutschen Börse, die mit 438 börsennotierten Unternehmen auf eine Kapitalisierung von 1870 Mrd. Euro kommt oder Euronext, das mit 416 Gesellschaften eine Kapitalisierung von 2480 Mrd. Euro erreicht. Es kommt hinzu, dass einige wenige Unternehmen und der Finanzsektor im Verhältnis zu ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung stark überrepräsentiert sind. Allein der Stromversorger Enel kommt auf einen Börsenwert von 81,4 Mrd. Euro. Ansonsten erreichen nur der Autokonzern Stellantis, Intesa Sanpaolo und Unicredit, der Energiekonzern Eni, Ferrari und Generali Kapitalisierungen von mehr als 20 Mrd. Euro. Banken, Versicherungen und Finanzdienstleister stehen für 39% der Marktkapitalisierung des Börsenplatzes.
Potenziale mobilisieren
Um Wachstumspotenziale über die Börse zu mobilisieren, müssten nicht nur italienische Investoren überzeugt werden, sondern auch die vielen durchaus börsenfähigen Mittelständler. Die Einrichtung des Kleinwertesegments Aim hat zwar eine deutliche Zunahme der Börsennotierungen zur Folge gehabt: Doch vor allem für ausländische Investoren ist der sehr illiquide Markt mit vielen, oft sehr kleinen Unternehmen, nicht sonderlich interessant. Im Durchschnitt sammelt ein Unternehmen bei einem Aim-Börsengang gerade mal 6,5 Mill. Euro ein, der durchschnittliche Börsenwert liegt bei 24 Mill. Euro. Die Gesamtkapitalisierung der im Aim-Segment notierten Unternehmen stagniert seit zwei Jahren bei etwa 6 Mrd. Euro, obwohl die Zahl der Unternehmen gestiegen ist. 2020 entfielen auf das AIM-Segment 23 (Vorjahr: 35) von 24 neuen Notierungen am Finanzplatz. Das 2019 geschaffene Segment steht für 139 börsennotierte Unternehmen.
Neue Impulse erwartet sich Anna Lambiase, CEO des Beratungsunternehmens IR Top Consulting, einem Partnerunternehmen der Borsa Italiana, das Unternehmen beim Börsengang unterstützt, nicht nur von einer konjunkturellen Erholung, sondern auch von der steigenden Bedeutung des Mailänder Aktienmarkts: „Die Börse wird bei der Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus eine noch wichtigere Rolle spielen als bisher, weil die Banken in der Post-Covid-Phase restriktiver bei der Vergabe neuer Kredite vor allem an Mittelständler sein werden.“
Nach dem Delisting einiger Werte, etwa des Anlagenbauers IMA und bald des Kaffeeherstellers Massimo Zanetti Beverages (MZB) mit der bekannten Marke Segafredo sprachen manche in Italien zu Jahresanfang von einer „Flucht von der Börse“. Denn mit Ubi Banca (die von Intesa Sanpaolo geschluckt wurde) und dem insolventen Modekonzern Stefanel (der von OVS aufgekauft wurde) verschwanden weitere Werte vom Zettel.
Wenige Börsengänge
Auffallend ist, dass es wenig Börsengänge gibt und wenn, dann vor allem im Aim-Segment. Dort gab es mit dem IT-Unternehmen Vantea Smart in diesem Jahr bisher erst ein IPO, Seco und Philogen stehen kurz davor. Seit Jahren wird über weitere Börsengänge von Modekonzernen wie Furla oder der Gastronomiekette Eataly spekuliert.
Aber abgesehen von dem Finanzdienstleister Nexi, dem Jachtenbauer Sanlorenzo und dem Pharmalieferanten GVS gab es in den letzten Jahren keine größeren IPOs. Aber vielleicht wirkt sich der Draghi-Effekt ja nicht nur bei der Kursentwicklung, sondern auch bei den Börsengängen positiv aus.