Online-Riese Recruit bleibt hungrig
Von Martin Fritz, TokioLange Zeit verband sich mit dem Namen “Recruit” einer der größten Korruptionsskandale der Nachkriegszeit in Japan. Sogar ein Premierminister stürzte 1989 über die Annahme von kostenlosen Aktienoptionen einer Recruit-Tochter. Danach brach das Unternehmen unter 14 Mrd. Dollar Schulden zusammen. Inzwischen ist dieser Fleck auf der weißen Weste der Japan AG wieder getilgt. Wie ein Phönix aus der Asche wuchs Recruit Holdings zu neuer Größe heran, baute Schulden ab und kaufte Aktien zurück, bis im Oktober 2014 die Rückkehr an die Börse gelang. Heute ist die Gruppe mit 361 Töchtern, 40 000 Mitarbeitern und einem erwarteten Jahresumsatz für 2018 von 2,3 Bill. Yen (18,6 Mrd. Euro) einer der größten Online-Dienstleister Japans. In der Marktkapitalisierung übertrifft Recruit mit 41 Mrd. Euro das größte Internetportal Yahoo Japan um das Dreifache und das größte Online-Kaufhaus Rakuten um das Vierfache.Anders gesagt: Die Aktie ist bereits gut gelaufen. Seit dem Tief vom Februar 2016 bei 1 075 Yen legte sie um bis zu 350 % zu. Aktuell bewegt sich die Aktie rund ein Fünftel unter dem Rekord von Ende September 2018. Dennoch bleibt die Bewertung auch für japanische Verhältnisse recht stattlich – das Kurs-Gewinn-Verhältnis beträgt 30 und das Kurs-Buch-Verhältnis 5,5. Im abgelaufenen Jahr wird zwar der dritte Gewinnrekord in Folge erwartet, aber von rasantem Wachstum kann keine Rede sein.Gemäß der Schätzung von Nomura nimmt der Umsatz im abgelaufenen Geschäftsjahr (bis 31. März) nur um knapp 7 % zu. Der Gewinn je Aktie werde um 15 % steigen. Für die nächsten zwei Jahre bis 2021 sagt Nomura ein Gewinnplus mit niedriger zweistelliger Rate vorher. Daher stuft der Analyst die Aktie als neutral ein. Sein Kursziel von 3 150 Yen lässt nur 5 % Spielraum nach oben. Auch die Dividendenrendite von 0,9 % bietet wenig Trost.Dennoch könnte Recruit in die heutige Bewertung hineinwachsen. Eine Option sind weitere Zukäufe im Ausland. 2015 wurde der niederländische Personalvermittler USG für 1,6 Mrd. Euro übernommen. Dafür wurde die gesamte Einnahme aus dem Börsengang verwandt. Der 2012 erfolgte Zukauf der vertikalen Job-Suchmaschine Indeed (8 000 Mitarbeiter, 250 Millionen Seitenaufrufe im Monat) hat Recruit ebenfalls außerhalb von Japan gestärkt. Insgesamt stieg der ausländische Umsatzanteil seit dem Börsengang von 25 % auf 46 %. Weitere Übernahmen sind wahrscheinlich, Ende Dezember war die Barkasse mit 354 Mrd. Yen (2,8 Mrd. Euro) gut gefüllt.Eine andere Möglichkeit zur Werterhöhung böte die Ausgliederung des Brot-und-Butter-Geschäfts mit der Vermittlung von Stellen und Zeitarbeitern, das 60 % der Einnahmen ausmacht. Hier konkurriert Recruit mit den vier Branchengrößen Adecco, Randstad, Manpower und Allegis. Die Japaner profitierten von der extremen Verknappung an Arbeitskräften in der Heimat. Auf 100 Jobsuchende kamen zuletzt 163 Stellenangebote. Eine Abspaltung ist jedoch wenig wahrscheinlich.Vermittlungsgebühren und Anzeigenerlöse bilden das Fundament der Einnahmen. Die Japaner betreiben rund 200 Webseiten und 350 Apps, darunter Japans größte Web-Seite für Restaurant-Kritiken (Hot Pepper) und das größte Portal für Immobilienanzeigen (Suumo). Durch einen internen Start-up-Wettbewerb kommen ständig neue Angebote dazu, etwa das Lernportal “Study Sapuri” für Studenten mit inzwischen 40 000 Online-Kursen. Für seine Idee erhielt der Gründer 200 Mitarbeiter und 16 Mill. Euro Startkapital. “Wir sind immer und überall da, wenn Leute etwas auswählen”, sagte Recruit-Chef Masumi Minegishi dem Finanzdienst Bloomberg. Online-Buchungen wickelt Recruit über den eigenen Bezahldienst Airregi ab.Das am schnellsten wachsende Segment bezeichnet Recruit als “HR Technology” mit zuletzt 50 % Wachstumsrate. Darunter fallen die Jobmaschine Indeed sowie das im Juni 2018 für 1,2 Mrd. Dollar geschluckte US-Portal Glassdoor (64 Millionen Seitenaufrufe im Monat). Dort bewerten ehemalige und aktuelle Mitarbeiter die Arbeitsbedingungen und Gehälter in inzwischen 900 000 Unternehmen in 190 Ländern, während Glassdoor den Arbeitgebern beim Recruiting und Branding hilft. Bislang macht “HR Technology” erst 10 % des Umsatzes aus.Bis 2030 wollen die Japaner die weltweit meisten Verbraucherkontakte mit ihren Diensten erzielen. Ihr riesiges Ökosystem generiert eine Datenfülle aus Seitenaufrufen, Reservierungen, Zahlungen und Bonuspunktvergaben. Eine Auswertung hilft Geschäftspartnern bei der Verbesserung ihrer Angebote und liefert die Grundlage für eigene Kreditangebote an kleine und mittlere Unternehmen. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz lässt sich dieser Datenschutz künftig noch mehr versilbern. Auch dies weckt durchaus Kursfantasien. Allerdings birgt die Zukaufstrategie im sich schnell wandelnden Internet ihre Risiken. Ein Beispiel liefert die Restaurant-Reservierungsseite Quandoo. Vor vier Jahren zahlte Recruit 198,6 Mill. Euro für das Berliner Start-up mit damals 4,3 Mill. Euro Umsatz. Doch die Zahl der Restaurants stieg in vier Jahren von 6 000 noch nicht einmal um das Dreifache auf heute 17 000, die Zahl der Länder-Websites ging von 13 auf 12 zurück. Vermutlich schreibt das Geschäft bis heute rote Zahlen.Trotz des Fehlgriffs erzeugte das Internetgeschäft zuletzt mit 30 % des Umsatzes rund zwei Drittel des operativen Gewinns. Das klassische Verlagsgeschäft mit 54 Print-Magazinen wie “Jalan” (Reiseführer) und “Travail” (Jobs für Frauen) wirkt dagegen eher bremsend. Dennoch will sich Recruit-Chef Minegishi nicht davon trennen, da man jeweils der Marktführer sei.Der Dienstleistungssektor in Japan erwies sich als relativ resistent gegen Schwankungen der Konjunktur, was auch die Recruit-Aktie weniger anfällig für Verluste macht. Gemäß Reuters-Daten stufen 13 Analysten Recruit mit “Kaufen” und “Outperform” ein, vier empfehlen “Halten”, einer rät zum Verkauf. Wegen der hohen Bewertung empfiehlt sich ein Zukauf in einer schwachen Marktphase.