„Vermutlich sind wir sehr nahe am Renditegipfel“
Herr Guntermann, kürzlich kam es zu einem Abverkauf von Staatsanleihen vor dem Hintergrund der Erwartungsänderung, dass die Leitzinsen wohl doch länger höher bleiben könnten als bisher gedacht. Wie beurteilen Sie dies?
Die Rentenmärkte befinden sich in einem prekären Zustand. Investoren sind bei längeren Laufzeiten weiterhin zurückhaltend, da die kurzfristigen Zinsen auf absehbare Zeit attraktivere Renditen bieten. Man könnte auch sagen: Cash ist King. Dieses Muster hat sich trotz des jüngsten Renditeanstiegs noch nicht geändert. Die Durationsaversion ist bei US-Staatsanleihen besonders deutlich ausgeprägt, zumal die US-Konjunkturdaten widerstandsfähig bleiben und der Markt eher über eine weitere Zinserhöhung in den USA spekuliert. Gleichzeitig bleiben die US-Haushaltsrisiken hoch, was länger laufende Anleihen über steigende Realrenditen und eine höhere Laufzeitprämie zusätzlich belastet. Eine Umkehr der Dynamik ist jedoch kaum zu erwarten, solange sich die US-Makrodaten nicht deutlich verschlechtern. Die zugrunde liegende Dynamik bei europäischen Staatsanleihen unterscheidet sich dabei nicht wesentlich von der bei US-Treasuries.
EZB-Chefvolkswirt Philip Lane erklärte schon einen Tag nach dem Abverkauf, dass die Leitzinsen ein restriktives Niveau in der Eurozone erreicht haben. Wollte er die Märkte nur beruhigen, oder sehen Sie den Leitzinsgipfel nun auch als erreicht an?
Sicherlich zielten die jüngsten Kommentare auch darauf ab, die Märkte etwas zu beruhigen. Gleichzeitig kann die EZB aber ihre entschlossene Haltung gegenüber den weiter bestehenden Inflationsrisiken nicht aufgeben. Die Aussicht, dass die EZB-Leitzinsen ihren Hochpunkt erreicht haben, ist nur bedingt eine Erleichterung für den Rentenmarkt. Denn gleichzeitig betont die EZB, dass sie die Zinsen noch länger auf diesem Niveau halten muss. Da wir keine schnelle Entspannung bei der Inflation erwarten, gehen wir davon aus, dass die EZB die Zinsen bis mindestens Ende 2024 unverändert lässt. Der Leitzinsgipfel dürfte somit nicht dem Profil des Matterhorns, sondern eher dem des Tafelbergs ähneln.
Wenn es bei den Zinsen auf absehbare Zeit keine Änderung gibt, welche anderen Möglichkeiten hat die EZB, um die Märkte zu beruhigen?
Die EZB dürfte wieder stärker darüber nachdenken, wie sich die Fliehkräfte innerhalb des Euroraums weiter abschirmen lassen. Italien bleibt das schwächste Glied. Ohne positive Haushaltsnachrichten oder Fortschritten bei den EU-Fiskalregeln dürften die Risikoprämien für italienische Staatsanleihen vorerst wohl weiter steigen und die Ratingrisiken zunehmen. Bislang zeigen sich die meisten EZB-Ratsmitglieder von der Marktentwicklung unbeeindruckt und betonen die Bedeutung der Marktkräfte. Die zuletzt starke Korrelation zwischen den Renditeaufschlägen von italienischen Staatsanleihen und US-Treasuries gegenüber Bunds könnte Anlass geben, den Ton zu ändern, zumal auch die Renditeaufschläge für Semikernländer auf die höchsten Niveaus seit dem Beginn der quantitativen Lockerung gestiegen sind. Mit der Überprüfung des geldpolitischen Rahmens könnte die EZB darüber nachdenken, ein strukturelles Anleiheportfolio beizubehalten. Damit könnte sie sowohl die Überschussliquidität steuern als auch Reinvestitionen als erste Verteidigungslinie gegen eine "ungerechtfertigte Fragmentierung" durchführen. Dieser Ansatz wäre allerdings nicht unumstritten. Die Bondmärkte müssen vermutlich zunächst noch stärker unter Druck geraten, um die Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass schmerzhafte Sparmaßnahmen der einzige Ausweg sind.
Wie sieht es mit den Emissionen im Euroraum aus? Und was bedeutet dies für die EGB-Spreads?
Auch im kommenden Jahr werden die Budgetdefizite in den großen Euro-Ländern mit Ausnahme von Deutschland teilweise deutlich mehr als 3% des Bruttoinlandsproduktes entsprechen. Die Angebotslast bleibt somit im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie beträchtlich. Wir schätzen, dass das Emissionsvolumen von Euro-Staatsanleihen im kommenden Jahr gegenüber dem Rekordvolumen in diesem Jahr nur leicht rückläufig sein wird und sich auf mehr als 1.260 Mrd. Euro belaufen wird. Zwar fallen die Emissionsvolumen in Deutschland und den anderen Kernländern, aber in Italien und Frankreich zeichnen sich neue Rekordemissionen ab. Die Abmilderungsstrategien der Finanzagenturen wie eine kürzere Duration, Retail-Produkte sowie niedrigere Kassenbestände und Reserven dürften den Druck auf die EGB-Spreads verringern. Daneben spricht eine strukturell niedrigere Sicherheitsprämie bei Bunds für tendenziell engere Spreads. Wir sehen zehnjährige italienische BTP-Anleihen in einer Spanne von 170 bis 240 Basispunkten. Frankreich dürfte weiterhin von einer Liquiditätsprämie profitieren. Irland und Portugal sind unsere Favoriten.
Sehen Sie den Renditegipfel bei den Bundesanleihen – zehn Jahre waren ja kurz über 3% – als erreicht an?
Vermutlich sind wir sehr nahe am Renditegipfel. Da die EZB den Zinserhöhungszyklus abgeschlossen hat, der Euroraum zunehmend in eine Rezession rutscht und die Inflation weiter fällt, dürften Renditeniveaus um 3% für Investoren wieder interessant sein. Die jüngste Dynamik bei den Renditekurven hatten wir allerdings so nicht erwartet. Gleichzeitig steigen die Chancen, dass höhere Renditen bei Bundesanleihen mittelfristig wieder zu niedrigeren Renditen führen, da die aktuelle Zinsdynamik auch die Risikoprämien für Anleihen des breiteren öffentlichen Sektors und Unternehmensanleihen steigen lässt. Wir haben zwar unsere Renditeprognosen kürzlich etwas angehoben, gehen aber weiterhin davon aus, dass die Bundrenditen in den kommenden Quartalen tendenziell wieder fallen.
Wo prognostizieren Sie die zehnjährige Bundrendite Ende dieses Jahres und Mitte kommenden Jahres?
Zum Jahresende sehen wir die zehnjährigen Bundrenditen bei 2,6% und damit etwas niedriger als aktuell. Das Ende des Zinserhöhungsprozesses, fallende Inflationsraten und anhaltende Konjunkturrisiken sprechen für einen weiteren Rückgang in der ersten Jahreshälfte 2024 auf rund 2,2%. Die Talsohle dürfte im Sommer erreicht werden.
Wie beurteilen Sie die konjunkturellen Aussichten für die Eurozone?
Im Euroraum zeichnet sich der von uns in der zweiten Jahreshälfte erwartete leichte Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion immer klarer ab. Die Frühindikatoren für den Dienstleistungssektor liegen in einem Bereich, in dem die Wirtschaft in der Vergangenheit in der Regel geschrumpft ist. Besonders kritisch ist die Lage in der Industrie. Hinzu kommt, dass nicht nur die EZB, sondern auch alle anderen westlichen Notenbanken die Zinsen spürbar erhöht haben. Damit besteht wenig Hoffnung, dass der wahrscheinliche Rückgang der Binnennachfrage durch eine nachhaltige Belebung der Exporte kompensiert wird. Zudem schwächelt die Nachfrage aus China. Da der Auftragspuffer inzwischen weitgehend aufgezehrt sein dürfte, spricht vieles dafür, dass die Wirtschaft im dritten und vierten Quartal schrumpft. In den Konsensprognosen für 2024 spiegelt sich aber noch immer der Glaube an eine spürbare Erholung der Konjunktur wider. Doch hierzu müsste die EZB die Leitzinsen schon bald kräftig senken, was angesichts des nur zögerlich nachlassenden Preisdrucks wenig wahrscheinlich ist.
Wie sind Ihre Erwartungen für die Inflationsentwicklung in der Eurozone?
Die gute Nachricht ist, dass die Inflation fällt und sich damit in die richtige Richtung bewegt. Im Oktober dürfe die Vorjahresrate noch einmal deutlich fallen. Danach lässt aber der dämpfende Effekt durch die Basiseffekte bei den Energiepreisen kontinuierlich nach. Der unterliegende Preisauftrieb sollte noch etwas nachlassen. Denn inzwischen haben die Unternehmen wohl einen Großteil der durch teurere Vorprodukte und höhere Energiepreise gestiegenen Kosten an die Verbraucher weitergegeben. Anders sieht es bei den Dienstleistungspreisen aus. Zwar hat auch hier die Vorjahresrate den Hochpunkt überschritten. Einen weiteren deutlichen Rückgang erwarten wir aber nicht. Denn mit den kräftig steigenden Löhnen dürfte eine neue Kostenwelle anstehen. Die Gesamtinflation dürfte zwar im kommenden Jahr im Durchschnitt nur noch 2,6% betragen. Die Kernteuerungsrate dürfte aber nur auf immer noch hohe 3,5% zurückgehen.
Wie sind vor diesem Hintergrund die Aussichten für Zinssenkungen in der Eurozone?
Bei den Inflationsraten gab es in den vergangenen Monaten keine gravierenden Überraschungen – weder nach oben noch nach unten. Die EZB kann daher zunächst weiter abwarten, ob und wie schnell die schwache Nachfrage den Preisdruck so stark dämpft, dass die Inflationserwartungen wieder mit dem 2%-Ziel in Einklang gebracht werden. Da wir fest davon ausgehen, dass der Preisdruck im Euroraum insbesondere aufgrund der steigenden Löhne länger anhält, bleiben der EZB die Hände gebunden. Wir teilen die aktuellen Markterwartungen von bis zu drei Zinssenkungen in 2024 nicht und gehen davon aus, dass die EZB die Zinsen im kommenden Jahr auf dem erreichten Niveau stabil halten wird.
Hat die US-Notenbank Fed ihren Leitzinshöhepunkt erreicht?
Auch die Fed dürfte ihren Zinsgipfel bereits erreicht haben, auch wenn sie die Tür für einen weiteren Schritt noch nicht zugeschlagen hat. Mit der Eskalation im Nahen Osten ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor für die Weltwirtschaft hinzugekommen. Entscheidender ist, dass die Aussagen der Fed-Mitglieder und nicht zuletzt auch von Powell mit den deutlich gestiegenen Kapitalmarktrenditen etwas vorsichtiger geworden sind, da sich auch die Refinanzierungsbedingungen für die Wirtschaft verschlechtern. Die Fed sieht diesen Zinsanstieg offensichtlich als Substitut für eine weitere Erhöhung der Leitzinsen. Der Finanzmarkt nimmt der Fed so gesehen einen Teil der Arbeit ab.
Wie stufen Sie die Budgetaussichten für die USA ein?
Die Budgetaussichten dürften neben der Aussicht auf höhere Leitzinsen für länger entscheidend zur jüngsten Kurvenversteilung und steigenden Renditen am langen Ende beigetragen haben. Denn das größte Risiko ist in einem erhöhten Angebot zu sehen, in einer Zeit, wo der Durationsappetit verhalten ist und dadurch die Realrenditen und die Laufzeitprämie steigen. Die Budgetpläne unterstreichen, dass es im kommenden Jahr möglicherweise mehr als genug Anleihen zu kaufen gibt – sowohl in den USA als auch im Euroraum. Insbesondere die langfristigen Budgetaussichten für die USA erscheinen alarmierend. Das Budgetdefizit dürfte in den kommenden Jahren bei über 5% liegen, und die Verschuldung würde nach aktueller Gesetzeslage von heute 98% bis 2053 auf 180% des Bruttoinlandsprodukts ansteigen. Das Angebot an US-Treasuries dürfte jedoch beherrschbar bleiben, da höhere Nettoemissionen durch einen langsameren Abbau der Fed-Bestände ausgeglichen werden und höhere T-Bills-Volumen den Druck bei Anleiheemissionen mindern könnten. Die Haushaltsrisiken bleiben jedoch hoch, da ein weiterer Stillstand im Kongress droht und die Wahlen nächstes Jahr Risiken in beide Richtungen bergen.
Erwarten Sie eine Rezession in den USA?
Die US-Wirtschaft hat im Sommer offenbar wieder Fahrt aufgenommen. Der Stellenaufbau hat sich zuletzt wieder beschleunigt, der private Verbrauch ist robust ausgefallen. Dies lässt vielerorts die Hoffnungen steigen, dass der US-Wirtschaft eine Rezession gänzlich erspart bleibt. Diese Ansicht teilen wir nicht. Denn die kräftigen und raschen Zinserhöhungen der Fed werden früher oder später auf die Realwirtschaft durchschlagen. Die Zinsen sind weiter gestiegen, was Bau, Investitionstätigkeit und den schuldenfinanzierten Teil des Konsums belasten sollte. Wir erwarten, dass die US-Wirtschaft im Sommerhalbjahr leicht schrumpfen wird.
Wie sind Ihre Prognosen für die zehnjährigen US-Treasury-Renditen per Jahresende und Mitte kommenden Jahres?
Die Renditen von US-Treasuries dürften in den kommenden Wochen erhöht bleiben, ein weiterer Anstieg ist kurzfristig nicht auszuschließen. Nachdem mehrere Fed-Mitglieder die Bedeutung steigender Renditen für den geldpolitischen Kurs betont haben, keimt Hoffnung auf, dass die Renditen auf ihren Höhepunkt zulaufen. Selbst bei einer weichen Landung der US-Wirtschaft erscheinen US-Treasury-Renditen von 5% grundsätzlich attraktiv. Zum Jahresende erwarten wir die zehnjährigen US-Treasury-Renditen etwas tiefer bei rund 4,6%. Anfang des Jahres dürfte sich die US-Rezession immer deutlicher abzeichnen, so dass Zinssenkungen der Fed wieder in den Fokus rücken. Allerdings dürfte die Fed die Zinsen kaum rasch senken, um die hart errungenen Erfolge im Kampf gegen die Inflation nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Bis Mitte 2024 dürfte die Inflation aber so weit gefallen sein, dass die Fed die Zinsen um insgesamt 100 Basispunkte senken kann. Dies wäre mehr, als die Forwards aktuell einpreisen. Zur Jahresmitte erwarten wir die zehnjährigen US-Renditen bei 4%.
Der Konflikt im Nahen Osten hat auch das Thema Flucht in Sicherheit wieder stärker auf die Tagesordnung gebracht. Wie stark ist der Treiber?
Mit den Spannungen im Nahen Osten sind die Anleiherenditen kurzzeitig gefallen, da insbesondere die als sichere Häfen geltenden US-Treasuries und Bundesanleihen gesucht waren. Der Effekt ist aber bereits weitgehend verpufft. Das Risiko, dass die Hisbollah oder gar Iran/USA in den Krieg hineingezogen werden, dürfte für eine höhere Sicherheitsprämie in den kommenden Wochen sprechen. Allerdings selbst mit der Aussicht auf eine weitere Eskalation hat sich die Kurvenversteilung bei weiter steigenden Sätzen am langen Ende wieder verstärkt. Da der Krieg letztlich zu höherer Inflation und Haushaltsdefiziten beiträgt, erwarten wir keinen nachhaltigen dämpfenden Effekt auf die Anleiherenditen.
IM INTERVIEW: RAINER GUNTERMANN
"Vermutlich sind wir sehr nahe am Renditegipfel"
Zinsexperte der Commerzbank sieht Euroraum zunehmend in die Rezession rutschen – Der EZB bleiben wegen Preisdruck aber die Hände gebunden – Bundrenditen fallen 2024
Rainer Guntermann, Zinsexperte der Commerzbank, sieht die Bundesanleiherenditen so langsam am Gipfel angekommen. Die Eurozone schlittert immer mehr in die Rezession, aber der EZB bleiben wegen des Inflationsdrucks die Hände in Sachen Zinssenkungen gebunden. Die zehnjährige Bundrendite sieht er bis Ende des Jahres tiefer und auch 2024 weiter fallen.
Das Interview führte Kai Johannsen.