Schein und Sein an den Anleihemärkten
Von Sophia Oertmann*)
Wer in diesen Wochen einen kurzen Blick auf die Spreadlandschaft an den Anleihemärkten der Europäischen Währungsunion (EWU) wirft, könnte den Eindruck bekommen, es sei alles in bester Ordnung. Nicht nur bei den Benchmark-Unternehmensanleihen sinken die Risikoaufschläge immer weiter und unterbieten mittlerweile das Vorkrisenniveau. Auch bei den Renditen der EWU-Staatsanleihen sind immer neue Rekordtiefstände zu vermelden bei zugleich zunehmend engeren Spreads. So sorgten zuletzt insbesondere zehnjährige italienische Staatsanleihen für Aufmerksamkeit, als diese zum Teil nur noch 90 Basispunkte (BP) über ihren deutschen Pendants notierten. Auch griechische Staatsanleihen traten hervor, indem sie zeitweise die zehnjährige italienische Rendite unterboten.
Dieses optimistische Bild wird bei einem Blick auf die Erwartungskomponente des ZEW-Index, die mit einem Wert von 71,2 im Februar knapp vom mehrjährigen Höchststand entfernt blieb, bestätigt. Doch dann fällt die Beurteilung der aktuellen Wirtschaftslage ins Auge: minus 67,2 – willkommen zurück in der Coronakrise.
Bei genauerer Betrachtung treten auch die negativen Wachstumsprognosen für das erste Quartal in der Eurozone hervor, ebenso wie die Umfragewerte der Einkaufsmanagerindizes für den Dienstleistungssektor, die seit Monaten eine Rezession andeuten. Ganz zu schweigen von den Staatsschuldenquoten der EWU-Länder. Diese sind infolge der Coronakrise rasant angestiegen. Doch wie passen diese Beobachtungen zusammen? Woher stammt die Kluft zwischen Tiefständen bei den Spreads und mehr als negativen Fundamentaldaten?
Eine andere Krise
Ein Hauptfaktor liegt darin, dass sich die Coronakrise strukturell von vorherigen Krisen unterscheidet. Dieses Mal war es nicht die Wirtschaft selbst, welche die Krise aufgrund eines nicht nachhaltigen Wachstumspfades hervorrief. Stattdessen handelt es sich um eine Gesundheitskrise mit schwerwiegenden Folgen für die Wirtschaft.
Ein Rückgang der Angebotskapazitäten sowie eine für längere Zeit gedämpfte Nachfrage, die typische Folgen einer Wirtschaftskrise sind, zeichneten sich bei der Corona-Pandemie zunächst nicht ab. Die Kurzarbeiterprogramme federten in vielen Ländern die Auswirkungen auf die Unternehmen und den Arbeitsmarkt ab. Deshalb verbreitete sich die Ansicht, dass spätestens mit der Verfügbarkeit eines Impfstoffs die Krise ein zeitnahes Ende finden würde und der aufgestaute Konsumdrang zu einer abrupt höheren Nachfrage führen dürfte.
Darüber hinaus wurde der optimistische Blick auf eine Zeit nach Corona durch den Wegfall zweier bedeutender Unsicherheitsfaktoren bestärkt. Sowohl die US-Präsidentschaftswahlen als auch die Brexit-Verhandlungen gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Daraus resultiert eine vermeintlich bessere Planbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung.
Nicht zuletzt wurden die Marktteilnehmer in ihrer Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr zum Vorkrisenniveau durch die EZB gestützt. Die Notenbank kauft seit März 2020 im Rahmen des Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) massiv Staatsanleihen der Eurozone an und trägt damit federführend zu der starken Reduktion der Spreads in diesem Segment bei.
Kombiniert man diese ultraexpansive Geldpolitik und die daraus resultierenden günstigen Refinanzierungsbedingungen für die EWU-Staaten mit den gleichzeitig beschlossenen Fiskalhilfen, so schien der Rückkehr zum Vorkrisenniveau kaum etwas im Wege zu stehen. Problematisch wurde es jedoch zum ersten Mal, als sich die zweite Corona-Infektionswelle herausbildete. Der Lockdown aus dem Frühjahr 2020, der sich in dieser Form nie wiederholen sollte, wurde erneut verhängt. Dies bedeutete den ersten Aufschub des wirtschaftlichen Aufschwungs und die endgültige Verabschiedung von einer V-förmigen konjunkturellen Erholung.
Es folgte ein schleppender Impfstart in der EU, dessen Tempo in den ersten Monaten des Jahres 2021 kaum ausreichen dürfte, um der zweiten Infektionswelle spürbar entgegenzuwirken. Damit geht eine weitere zeitliche Verzögerung einher und somit die Verabschiedung von einer W-förmigen Wirtschaftserholung.
Aktuell stellen die sich verbreitenden Corona-Mutationen die dritte Herausforderung dar. Es besteht nicht nur das Risiko, sondern die immer wahrscheinlichere Aussicht, dass die Coronakrise noch für Jahre nicht ganz ausgestanden sein wird. Das Alphabet vermag für diesen Verlauf kaum noch einen passenden Buchstaben zu finden.
Trotz dieser aufkommenden Risikofaktoren gleicht die Spreadlandschaft in der Eurozone einer Talsohle und verschleiert damit zunehmende Gefahren. Je länger die Lockdown-Maßnahmen andauern, desto höher steigen die Staatsschuldenquoten in der Eurozone an. Dennoch dürften die Fiskalmaßnahmen nicht ausreichen, um langfristig sämtliche Unternehmensinsolvenzen zu verhindern. Mit zunehmender Dauer der Krise steigen die Folgeschäden für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt, auch wenn sie aktuell nur in Ansätzen sichtbar sein mögen.
Es türmen sich also Ausfallrisiken auf, sowohl bei der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen als auch bei der Zahlungsfähigkeit vieler Unternehmen. Hinzu gesellt sich ein zunehmend kritischer Blick auf die deutlich gestiegene Bilanzsumme der EZB. Auch wenn die letzten Sätze etwas kritisch anmuten dürften, dienen sie schlussendlich dazu, die aktuellen Spreadniveaus und somit die Risikowahrnehmung der Marktteilnehmer in Frage zu stellen.
Erst kürzlich zeigte das Beispiel Italiens die vorherrschende asymmetrische Risikowahrnehmung. Als es zum Ende der Conte-Regierung kam und Neuwahlen drohten, weitete sich der BTP-Bund-Spread um 20 Basispunkte aus. Als sich jedoch eine neue Regierung unter dem ehemaligen EZB-Chef Mario Draghi abzeichnete, kam es zu umso deutlicheren Spreadeinengungen. Obwohl sich an den strukturellen und finanziellen Problemen Italiens kaum etwas verändert hatte, sank der zehnjährige Spread unter das Niveau vom Jahresbeginn.
Keine Einbahnstraße
Angesichts dieser rekordverdächtig niedrigen Spreadniveaus sollten die Marktteilnehmer nicht aus den Augen verlieren, dass die ultraexpansive Geldpolitik der EZB keine Einbahnstraße darstellt. Wenn in den kommenden Jahren bei einem möglichen Paradigmenwechsel der Geldpolitik ein Überschießen der Spreads vermieden werden soll, hilft womöglich nur eine frühzeitige realistische Bewertung derselben.
Eine symmetrische Risikobeurteilung der Marktteilnehmer, die negative Meldungen ebenso einpreist wie positive, dürfte für die Marktstabilität in der kommenden Zeit entscheidend sein. Denn nach langen Monaten immer engerer Spreads scheint der Boden bald erreicht zu sein. Bei einem zukünftigen Richtungswechsel gilt es, von einer Reduktion der Anleihekäufe oder von Ratingherabstufungen nicht überrascht zu werden.
*) Sophia Oertmann ist Analystin Fixed Income Research bei der DZ Bank.