Devisenwoche

Unsicherheit, Ambiguität, Zentralbanken und Wechselkurse

Ich habe den Eindruck, dass momentan das Unwissen über die zukünftige Inflationsentwicklung eher den Charakter von Ambiguität als von Unsicherheit hat. Das ist für Finanz- und Devisenmarkt relevant.

Unsicherheit, Ambiguität, Zentralbanken und Wechselkurse

Devisenwoche

Unsicherheit, Ambiguität, Zentralbanken und Wechselkurse

Von Ulrich Leuchtmann *)

Vor ein paar Tagen verstarb Daniel Ellsberg im Alter von 92 Jahren. Einigen dürfte er als der Whistleblower in Erinnerung sein, der 1971 die geheimen Pentagon Papers an die „New York Times“ und die „Washington Post“ weitergab. Doch war Ellsberg auch ein begnadeter Spieltheoretiker. Ihm verdanken wir u.a. das „Ellsberg-Paradoxon“. Das geht so: In einer Urne befinden sich 50 rote und 50 blaue Kugeln; in einer anderen Urne befinden sich auch 100 Kugeln, auch rote und blaue, keine anderen. Aber niemand kennt die Aufteilung. Wenn Sie darauf wetten müssen, eine rote Kugel zu ziehen, aber die Urne auswählen können: Aus welcher Urne würden Sie ziehen? Die allermeisten Menschen würden (zumindest, wenns um relevante Wetteinsätze geht) die erste Urne wählen, die mit bekannter Verteilung. Die meisten sogar dann, wenn sie nur 49 rote, aber 51 blaue Kugeln enthielte.

Was aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften ein unerklärliches Verhalten ist, ist keineswegs „paradox“, wenn man berücksichtigt, dass wir besonders Situationen vermeiden wollen, die unübersichtlich sind, in denen mit anderen Worten die Verteilung von Chancen und Risiken unbekannt ist. „Ambiguität“ nennt Ellsberg diese unübersichtlichen Situationen, um sie von „Unsicherheit“ (bei bekannten Chancen & Risiken) zu unterscheiden.

Warum erzähle ich Ihnen das in der Kolumne „Devisenwoche“? Weil ich den Eindruck habe, dass momentan das Unwissen über die zukünftige Inflationsentwicklung eher den Charakter von Ambiguität als von Unsicherheit hat. Und weil das für Finanzmärkte – auch für den Devisenmarkt – relevant ist.

Verwunderung der Notenbanken

In den 2010er Jahren wunderten sich die Zentralbanken ständig darüber, dass ihre expansive Geldpolitik nicht inflationärer wirkte. Und seit 2021 erleben wir das Gegenteil: einen Inflationsschock, den die Zentralbanken unisono sowohl nicht vorhergesagt hatten als auch – als er sichtbar wurde – lange massiv unterschätzten.

Wir sollten nicht annehmen, dass die Marktteilnehmer (zumindest die überwiegende Zahl von ihnen) schlauer sind als die Zentralbanken. Natürlich werden weiterhin am Markt Wetten auf zukünftige Inflation gehandelt, aus denen Analysten „marktbasierte Inflationserwartungen“ ausrechnen.

Das geht rein rechentechnisch immer. Doch frage ich mich, was solche Rechenübungen bringen, wenn man davon ausgehen muss, dass niemand versteht, nach welchen Gesetzmäßigkeiten die Inflation sich zumindest derzeit entwickelt. Wenn man das nicht weiß, kann ein Erwartungswert, den der Markt formuliert, nicht gehaltvoll sein.

Normalerweise nimmt man an, dass die Sichtweisen verschiedener Marktsegmente – der für Inflationswetten und der für Währungen – „zusammenpassen“. Ist Ellsbergsche Ambiguität ein relevantes Problem, ist diese Annahme nicht länger aufrechtzuhalten, weil Verteilungs-Aussagen (etwa zur „erwarteten“ Inflation) nicht mehr gehaltvoll sind.

Schaut man sich die durchgehend niedrigen marktbasierten Inflationserwartungen an (langfristig für den Euroraum und die USA rund 2½%), dann scheint der Markt zumindest auf mittlere bis lange Sicht beiden Zentralbanken gleichermaßen zuzutrauen, ihre Inflationsrate zumindest in die Nähe ihrer Ziele zurückzuführen.

Doch messen diese Maße nur Unsicherheit, nicht Ambiguität. Für die Bewertung der jeweiligen Währungen – Euro und US-Dollar – kommts daher nicht nur auf diese Maße an, sondern auch darauf, welche Währung wohl besonders leiden würde, wenns ganz anders käme. Weil Devisenhändler – genau wie jedermann – Ambiguität nicht mögen.

Worauf es ankommt

Daher ist momentan – trotz ähnlicher langfristiger Inflationserwartungen – sehr wohl entscheidend, welche Währung im Fall einer viel hartnäckigeren Inflation besonders leiden könnte. Ich sehe vor allem drei Faktoren, die dafür entscheidend sein könnten:

Wie reagibel ist eine Zentralbank? Als die Fed Anfang Mai de facto schon das Ende der Zinserhöhungen verkündet hatte, die EZB aber noch mitten im Zinszyklus steckte, war das für den Euro positiv. Vor allem, weil die Fed im Fall, dass die Inflation doch hartnäckiger ist, womöglich eine ganze Weile gebraucht hätte, um wieder ihre Zinserhöhungen anzuschmeißen. Als die Fed sich schnell wieder reagibler zeigte, konnte der Dollar sich entsprechend wieder erholen.

Realwirtschaft entscheidet mit

Wie restringiert ist eine Zentralbank durch Rezession und/oder Arbeitslosigkeit? Ob wirs mögen oder nicht, Zentralbanken konzentrieren sich fast nie ausschließlich auf die Inflationssteuerung, sondern haben immer auch ein Auge auf die realwirtschaftliche Entwicklung: auf Wachstum und Arbeitslosigkeit. Bei schwachem Wachstum oder gar Rezession, insbesondere aber bei hoher Arbeitslosigkeit fällt es Zentralbanken schwerer, kräftig gegen Inflation anzugehen. Weil solch ein Vorgehen i.d.R. die realwirtschaftlichen Probleme noch verschärft. Daher reagieren die Wechselkurse momentan besonders empfindlich auf die Veröffentlichung realwirtschaftlicher Daten: Enttäuschende Einkaufsmanager-Indizes brachten letzte Woche den Euro erheblich unter Druck, gute US-BIP-Zahlen halfen dem Dollar deutlich, während schwache regionale US-Einkaufsmanager-Indizes seine Gewinne wieder abschmelzen ließen. Reaktionen der Wechselkurse auf solche Daten sind nicht ungewöhnlich. Doch sind sie momentan ungewöhnlich stark.

Wie hoch ist der politische Druck auf eine Zentralbank? Zentralbanker betonen gerne, wie unabhängig sie wären. Doch ist es de facto wohl so, dass eine Geldpolitik, die von Regierung und/oder Öffentlichkeit missbilligt wird, deutlich schwerer durchzuhalten ist. Typischerweise muss man wohl annehmen, dass die EZB eher auf politischen Druck reagiert als die Fed. Zumindest ist das der Eindruck aus der Euroraum-Krise. Ich halte es daher für potenziell relevant, ob die schrille EZB-Kritik, die wir derzeit aus der italienischen Regierung hören, andauert oder sich sogar verstärkt. Andererseits arbeitet die Zeit gegen den Dollar. Je näher der nächste US-Präsidentenwahlkampf rückt, desto mehr politische Rücksicht muss wohl die Fed nehmen.

Ich erwarte, dass der EUR-USD-Markt die Zentralbanken auf diese Fragen hin abklopfen wird. So lange, bis nicht nur Inflations-Unsicherheit, sondern auch Inflations-Ambiguität verschwunden ist. In den nächsten Monaten könnte dabei der Euro die Nase vorn haben, weil nach Ende der Zinserhöhungen die Fed tendenziell eher wieder an Zinssenkungen denken könnte und damit bei anhaltender Inflations-Ambiguität als riskanter erscheint. Das heißt freilich nicht, dass es dabei bleibt, wenn der Nebel sich lichtet.

*) Ulrich Leuchtmann ist Leiter des Devisen-Research der Commerzbank.