GELD ODER BRIEF

Wette gegen das britische Gesundheitssystem

Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 22.1.2021 Spire Healthcare könnte sich schon bald als einer der großen Gewinner der Coronavirus-Pandemie entpuppen, nachdem die Aktie lange unterhalb ihres Nettoinventarwerts notiert hat. Die...

Wette gegen das britische Gesundheitssystem

Von Andreas Hippin, LondonSpire Healthcare könnte sich schon bald als einer der großen Gewinner der Coronavirus-Pandemie entpuppen, nachdem die Aktie lange unterhalb ihres Nettoinventarwerts notiert hat. Die FTSE-250-Gesellschaft ist nach BMI Healthcare der zweitgrößte private Krankenhausbetreiber in Großbritannien und legte bereits in den vergangenen Monaten einen rasanten Kursspurt hin. Die Aktie ist eine Wette gegen das öffentliche Gesundheitssystem NHS. Knapp die Hälfte des Umsatzes stammt von privaten Krankenversicherungen, rund ein Fünftel von selbst zahlenden Patienten und rund ein Drittel vom National Health Service (NHS).Das Geschäft mit privaten Gesundheitsleistungen hatte sich in den vergangenen Jahren nicht besonders gut entwickelt. Das liegt vor allem daran, dass der NHS ein breites und qualitativ hochwertiges Angebot bereitstellt, das kostenlos in Anspruch genommen werden kann. Zudem herrscht in der Öffentlichkeit die Ansicht vor, dass Gesundheitsleistungen vom Staat vorgehalten werden sollten. Die Unzufriedenheit mit den Wartezeiten für bestimmte Routineoperationen war vor der Pandemie zwar groß, nahm aber nicht dramatisch zu. Der NHS fuhr das Outsourcing von Leistungen an private Dienstleister 2018 zurück. Spire konzentrierte sich fortan auf Selbstzahler. Angst vor AnsteckungDie Pandemie hat dazu geführt, dass sich Krankenhäuser während der ersten Welle fast nur noch um Covid-19-Patienten kümmerten. Selbst Krebstherapien fanden nicht mehr statt, Operationen wurden abgesagt, von Vorsorgeuntersuchungen ganz zu schweigen. Andererseits überlegten es sich viele Menschen angesichts des Ansteckungsrisikos zwei Mal, ob sie sich mit ihren Beschwerden zum Arzt oder in die Notaufnahme eines Hospitals begeben sollen. Von April bis August stellte Spire dem NHS ihre Kapazitäten auf Kostenbasis zur Verfügung. Anleger mussten auf ihre Dividende verzichten. Dem Unternehmen sicherte der Deal das Überleben.Die Zahl der Neuinfektionen der “dritten” Welle übertrifft bereits die im Frühling 2020 beobachteten Werte. Der NHS ist Schätzungen zufolge zu mehr als 90 % ausgelastet. Erneut werden Operationen abgesagt, um Platz für Covid-19-Patienten zu schaffen. Weil mittlerweile auch über die versteckten Folgen der Pandemie nachgedacht wird, ist zwar nicht mit einer kompletten Aussetzung anderer Gesundheitsleistungen zu rechnen, doch kann es zumindest auf regionaler Ebene aus Kapazitätsgründen dazu kommen.Analysten erwarten, dass Spire langfristig davon profitieren wird, dass der NHS verstärkt Leistungen auslagern muss, weil sich die Wartelisten ins Unendliche verlängert haben. Die Analysten von Peel Hunt gehen davon aus, dass im vergangenen Jahr rund 4,5 Millionen Menschen Behandlungen aufgeschoben haben. Rechne man die 4,3 Millionen dazu, die bereits auf den Wartelisten standen, sei man schon bei rund 9 Millionen, die behandelt werden müssen, bevor sich ihr Zustand verschlechtert. Das Royal College of Surgeons fürchtet, dass die Zahl der Menschen, die sich auf Wartelisten befinden, auf 10 Millionen gestiegen sein könnte – fast ein Fünftel der Bevölkerung. Allerdings ist der NHS nicht gerade dafür bekannt, freiwillig private Anbieter mit seinen Aufgaben zu beauftragen. Es gibt auch Analysten, die nicht mit einem steigenden Auftragsvolumen der öffentlichen Hand rechnen. Ausstieg über die BörseSpire Healthcare ging 2007 aus dem Verkauf von 25 Krankenhäusern der privaten Krankenversicherung BUPA (British United Provident Association) für 1,44 Mrd. Pfund an den Finanzinvestor Cinven hervor. Ein Jahr später wurden Classic Hospitals und Thames Valley Hospital erworben, 2010 kam die London Fertility Clinic hinzu. Im Juli 2014 brachte Cinven Spire in London an die Börse. Nach Platzierung mehrerer Tranchen war der Finanzinvestor, der nach eigenen Angaben 500 Mill. Pfund in das Unternehmen investiert hat, zwölf Monate später komplett ausgestiegen. Damals gingen 29,9 % an Remgro, den Hauptaktionär der südafrikanischen Privatklinikgruppe Mediclinic. Mittlerweile betreibt Spire 39 Krankenhäuser und acht Kliniken in England, Schottland und Wales.Rund die Hälfte der Immobilien, in denen sie sich befinden, gehören dem Unternehmen. Knight Frank bewertete sie zuletzt Ende 2018 mit 1,1 Mrd. Pfund. Der Börsenwert der Gesellschaft lag zuletzt bei 634 Mill. Pfund, die Nettoverschuldung belief sich auf 378 Mill. Pfund. Der Verschuldungsgrad mag Post-IFRS16 mit rund dem fünffachen Ergebnis vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Amortisation (Ebitda) hoch erscheinen, doch handelt es sich dabei um Papiergeraschel. Realistischer ist es, das Prä-IFRS16-Multiple von 2,9 anzusetzen. Am Markt wurde positiv aufgenommen, dass der Verschuldungsgrad zuletzt nicht gestiegen ist.Weil das Unternehmen für das laufende Jahr einen Verlust erwartet, ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis wenig aussagekräftig. Allerdings deuten die Schätzungen für das Folgejahr darauf hin, dass reichlich Hoffnung eingepreist wird. Peel Hunt kommt für 2021 auf ein KGV von 29,0, Liberum Capital auf 50,2.Spire steht nicht gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit der Sell-Side-Analystengemeinde. Bloomberg zufolge bewerten fünf die Value-Aktie mit “Kaufen”, drei mit “Halten” und einer mit “Verkaufen”. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei 167 Pence. Das Kursziel von Peel Hunt (177 Pence) impliziert einen Unternehmenswert, der Prä-IFRS16 dem 7,9-fachen des für 2021 erwarteten Ebitda entspricht. Krankenhausbetreiber mit großem Immobilienbesitz wie Medicare wurden an der Börse Prä-IFRS16 mit dem 8- bis 9-fachen Ebitda bewertet. Nach den Kursgewinnen der vergangenen Monate dürfte ein Großteil des Aufwärtspotenzials ausgeschöpft sein. Liberum Capital geht aber davon aus, dass noch ein wenig Schwung in der Aktie ist und setzt 180 Pence als Kursziel an.