Im InterviewLuke Barrs

„Wir hoffen auf eine breitere Erholung des Marktes“

Der Aktienmarkt hat sich stark auf große Technologiewerte konzentriert. Das könnte sich aber nach Ansicht von Luke Barrs, Global Head of Client Portfolio Management bei Goldman Sachs Asset Management, bald ändern.

„Wir hoffen auf eine breitere Erholung des Marktes“

Im Interview: Luke Barrs

„Wir hoffen auf eine breitere Erholung des Marktes“

Konzentration der Anleger auf die großen Technologiewerte könnte nach Ansicht von Luke Barrs von Goldman Sachs Asset Management bald nachlassen

ku Frankfurt

Der Aktienmarkt hat sich stark auf die großen Technologiewerte konzentriert. Das könnte sich aber ändern, der Aufwärtstrend könnte nach Ansicht von Luke Barrs von Goldman Sachs Asset Management an Breite gewinnen. Damit böten sich Chancen auch bei kleineren, hochwertigen Unternehmen, die auf Zukunftstrends setzen.

Herr Barrs, wo sehen Sie derzeit in beson­derem Maße Chancen für Anleger?

Wenn wir das Gesamtbild betrachten, so sehen wir weiterhin gute Chancen in den Aktienmärkten. Im vergangenen Jahr hat es in vielen dieser Märkte eine deutliche Erholung gegeben, wobei sich die starke Performance auf wenige größere Unternehmen konzentrierte, beispielsweise auf die großen Technologieunternehmen. Wenn man dann aber beispielsweise in den USA die „Magnificent 7“ ausblendet, war die Aufwärtsentwicklung sehr viel zurückhaltender. Das weckt bei uns die Hoffnung, dass es eine breitere Erholung der Unternehmensgewinne und damit des Marktes geben könnte. Mit Blick auf das schwache makroökonomische Umfeld ist die allgemeine Qualität und die Stabilität der Entwicklung der Unternehmensgewinne gelegentlich übersehen worden. Sobald sich die Zentralbanken zudem etwas entspannter zeigen, könnte das einen breiten Anstieg der Unternehmensgewinne und damit marktbreite positive Reaktionen an den Aktienmärkten auslösen.

Welche Branchen stechen dann besonders hervor?

Nun, wir denken vor allem, dass sich die Erholung im Technologiesektor auch auf die kleineren Unternehmen ausdehnen könnte. Dies beobachten wir mit großem Interesse, weil es dort viele Unternehmen in führenden Positionen und mit guten Wachstumsaussichten gibt – etwa in Bereichen wie Cyber Security und dem Umfeld der künstlichen Intelligenz. Auch im Bereich Healthcare haben wir eine starke Entwicklung bei den großen Unternehmen der Branche gesehen. Es gibt gute Wachstumsperspektiven in der Biotechnologie, die sich noch nicht in den Bewertungen in der Breite des Biotechnologiesektors niedergeschlagen haben.

Inwiefern?

Wenn wir uns die Cash-Bestände in den Bilanzen von kleinen und mittelgroßen Biotechnologieunternehmen ansehen und diese mit den Unternehmenswerten vergleichen, so zeigt sich, dass sich die Zahl derjenigen Unternehmen, die einen negativen Unternehmenswert aufweisen, auf einem Höchststand befindet. Es handelt sich um Unternehmen, die noch keinen positiven Cashflow haben und in manchen Fällen auch noch keine Erlöse, weil die Unternehmen gerade in dieser Branche sehr früh an die Börse gehen. Bei den Marktteilnehmern gibt es nun Sorgen, dass diese Unternehmen noch große Summen an Kapital benötigen, um positive Ergebnisse zu erwirtschaften. Wenn diese Unternehmen nun jedoch erfolgreich klinische Tests durchlaufen und neue revolutionäre Technologien auf den Markt bringen, deutet die Tatsache, dass sie zu einem negativen Unternehmenswert an der Börse gehandelt werden, darauf hin, dass sie unterbewertet sind. Insofern ist der Aktienmarkt derzeit möglicherweise zu pessimistisch, auch was die Möglichkeiten dieser Unternehmen betrifft, sich zu finanzieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die großen Pharmakonzerne im Nachgang der Pandemie einerseits über große Cash-Bestände verfügen, andererseits aber die Innovation und Forschung gerne auf kleinere Unternehmen auslagern. Insofern wären das Anzeichen für einen großen M&A-Zyklus. Kleine Biotechnologie-Firmen, die oft Ein-Produkt-Unternehmen sind, erbringen den Nachweis, dass ihre Konzepte funktionieren, worauf sie dann von den großen Pharmakonzernen aufgekauft werden, damit diese ihre Produkt-Pipeline wieder auffüllen. So sind die Cash-Bestände der 20 bedeutendsten Pharmakonzerne größer als die Marktkapitalisierung der kleinen und mittelgroßen Biotechnologieunternehmen zusammengenommen. Ein möglicher M&A-Zyklus könnte dann beginnen, wenn die Zuversicht hinsichtlich der Konjunkturentwicklung zunimmt.

Gibt es noch weitere interessante Investment-Themen?

Wir finden es interessant, wie sehr der Markt die Möglichkeiten von Unternehmen unterschätzt, sich mit Blick auf ihr Umweltprofil zu verbessern. Wir hatten für fünf bis sechs Jahre einen enormen Zufluss von Mitteln in Unternehmen, die Lösungen für Umweltprobleme anbieten. Der Markt unterschätzt aber die Möglichkeiten von „braunen“ Unternehmen, sich zu verbessern. Ich denke da an Versorger und Unternehmen aus dem Transportwesen, die klare und gut definierte Pläne für ihre Dekarbonisierung haben. Kapital, das in diesem Bereich investiert wird, wirkt nicht nur positiv hinsichtlich der grünen Transformation, sondern sorgt auch langfristig für Ertragsverbesserungen und Kostensenkungen bei den Unternehmen. Es gibt viele Beispiele, wo der Markt die Potenziale für Ertragsverbesserungen derartiger Veränderungsprozesse unterschätzt.

Sind Sie eigentlich überhaupt noch in den „Magnificent 7“, also den sieben großen amerikanischen Technologieunternehmen investiert?

Wir sind dort selektiv noch investiert, und zwar in den Unternehmen, die auf einem höchsten Qualitätsniveau die Anwendung von KI ermöglichen, sowie in Bereichen wie Halbleiter sowie Cloud- und Server-Technologien. Im Aktienmarkt kann man noch nicht direkt in echte KI-Innovation investieren, es gibt aber Softwarekonzerne, die die Effizienz ihrer Produkte durch Integration von KI verbessern. Das werden wir bei mehr und mehr Unternehmen sehen.

Gibt es weitere interessante Anlage­themen, nach denen Anleger Ausschau halten sollten?

Wir interessieren uns auch wieder zunehmend für traditionelle Business-Modelle, die von der Neustrukturierung der Lieferketten profitieren. Dabei geht es in erster Linie um die Repatriierung kritischer Elemente der Lieferketten in den USA sowie in Europa – oder zumindest um eine Diversifizierung, so dass nicht mehr alles nur in China hergestellt wird. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist die Halbleiterindustrie, die quasi eine Basis darstellt für viele andere Themen wie künstliche Intelligenz, Virtual Reality oder autonomes Fahren. Von dem Bau neuer Halbleiterwerke in den USA profitieren viele Unternehmen aus Bereichen wie Investitionsgüter, Automation oder Systemintegration und -prüfung. Derartige Unternehmen haben bereits einen deutlichen Anstieg ihrer Auftragseingänge verzeichnet.

Handelt es sich hierbei eher um kleinere Unternehmen?

Im Technologiesektor gibt es viele Unternehmen, die sich auf einen bestimmten Teilmarkt fokussiert haben wie beispielsweise Server-Hardware für die Cloud-Branche, die weiterhin attraktiv sind. Aber besonders interessant sind die stärker generischen Zulieferer, die sämtliche Teilmärkte beliefern – zum Beispiel für Baustoffe sowie Automatisierungs- und Systemprüftechnologien. Diese Unternehmen dürften in den nächsten fünf bis zehn Jahren erfolgreich sein, egal, welche Themen sich durchsetzen. Derartige Unternehmen sind auch in der Regel sehr viel vernünftiger bewertet als die großen Technologiekonzerne und die Risiken für Anleger sind auch geringer.

Konzentrieren Sie sich nur auf die entwickelten Märkte oder sind sie auch in den Emerging Markets engagiert?

Beim Thema Lieferkettenrestrukturierung liegt unser Fokus auf entwickelten Märkten, da wir hier die größten Veränderungen beobachten. Dort gibt es aber auch Unternehmen, die von der sich stärker entwickelnden Multipolarität  profitieren – beispielsweise in Indien, wo wir einen erheblichen Anstieg der Investitionen im verarbeitenden Gewerbe sehen. Genauso gibt es viele Unternehmen, die weiterhin vom Wachstum in China profitieren. Es gibt natürlich andere Strategien in unseren Portfolien, die sich rein auf Emerging Markets fokussieren. Wir sind grundsätzlich optimistisch für diese Länder, was damit zu tun hat, dass die Notenbanken in ihren geldpolitischen Zyklen weiter sind als die Zentralbanken der entwickelten Länder. Inflation war in diesen Ländern kein ganz so großes Problem, weshalb die Zinssenkungen früher beginnen konnten. Das treibt auch die Unternehmensgewinne an. Allerdings ist die konjunkturelle Entwicklung in China weiterhin herausfordernd.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in China?

Nun, die Konjunktur ist schwächer ausgefallen als erwartet. So ist es nach dem Ende der Null-Covid-Politik der chinesischen Regierung nicht zu dem prognostizierten Konsum-Boom gekommen. Es gibt auch nach wie vor eine Belastung der chinesischen Wirtschaft durch Staatsbetriebe, die aber langsam reformiert werden, um eine höhere Produktivität zu erzielen. Wir sehen einige positive Zeichen hinsichtlich der Konjunktur, vor allem, was den privaten Konsum betrifft. Außerdem ist zu beachten, dass der chinesische Aktienmarkt mit einem hohen Abschlag im Vergleich zur eigenen Historie und anderen Märkten gehandelt wird.

Ist eigentlich ein starker China-Fokus von Unternehmen nach wie vor ein positiver Indikator oder stellt es inzwischen eher eine Belastung dar?

Ich denke, es ist nach wie vor ein positiver Faktor, insbesondere wenn es um die Präsenz auf den Endmärkten in China geht – sofern es zu der erwarteten Erholung von Konjunktur und Nachfrage in China kommt. Allerdings ist die längerfristige Perspektive der in China stark engagierten Unternehmen aus den entwickelten Märkten aus unserer Sicht schwächer, als sie es bisher war. Das liegt unter anderem daran, dass China die Kerntechnologien in vielen Bereichen selber steuern will.

Wen trifft das besonders?

Das trifft beispielsweise die deutsche Autoindustrie. So gibt es z.B. in der Elektromobilität eine starke Verschiebung der Nachfrage hin zu lokalen Champions. Ähnliches gilt auch für Bereiche wie Automation. Für Investoren bedeutet dies, dass sie im Fall einer positiven Einschätzung der Entwicklung in China an dieser weniger über Unternehmen und Aktien aus den entwickelten Ländern teilhaben können, sondern sich stärker lokal fokussieren müssen. Das gilt insbesondere für die vier von der Regierung definierten Pfeiler der chinesischen Industrie, nämlich Computer-Hardware, Software, Healthcare/Biotechnologie und grüne Technologien. In diesen Bereichen strebt China auch Protektionismus für die eigene Industrie an.

In Europa befindet sich die Industrie in einer tiefen Krise. Gibt es in der europäischen Industrie dennoch Bereiche, die für Investoren interessant sind?

Wir sehen natürlich auch die  Herausforderungen, aber wir sind nicht ausgestiegen aus der europäischen Industrie. Man sollte sich diesen Sektor nicht als etwas Homogenes vorstellen. Es gibt eine hohe Differenzierung hinsichtlich Märkten und Produkten. Es gibt beispielsweise Unternehmen in relativ abgeschotteten Märkten, die in Phasen hoher Investitionen profitieren, die aber dennoch geschützt sind in Zeiten niedriger Investitionen, weil die Produkte dieser Unternehmen von den Kunden benötigt werden. Derartige Unternehmen kann man beispielsweise in Bereichen wie digitaler Automation, künstlicher Intelligenz, Software zur Produktivitätssteigerung und Datenzentren finden. Davon profitieren insbesondere die qualitativ hochwertigen Unternehmen, die es zu finden gilt.

Wie wählen Sie grundsätzlich Aktien für die Anlage aus?

Unser Ansatz besteht darin, dass wir Marktineffizienzen für die längerfristige Aktienanlage ausnutzen wollen. Wie Sie wissen, sind die Finanzmärkte zunehmend effizient geworden. Es gibt zwar immer noch einzelne Aktienmärkte etwa in Asien und anderen Emerging Markets, bei denen es eine asymmetrische Verteilung von Informationen gibt, die sich insbesondere dann ausnutzen lässt, wenn man vor Ort vertreten ist. In Europa und den USA sind diese Ineffizienzen aber aufgrund von Arbitrage weitestgehend verschwunden. Die einzige Ineffizienz, die sich dort noch ausnutzen lässt, ist die Ineffizienz des Zeithorizonts. Dies lässt sich realisieren, indem man sich nicht auf die nächsten Quartalsergebnisse fokussiert, sondern mit Blick auf einen Zeithorizont von beispielsweise fünf Jahren und mehr investiert und sich dabei auf die mittel- und langfristige Dynamik der Geschäftsmodelle der Unternehmen konzentriert.

Worauf achten Sie dabei?

Wir achten primär darauf, ob das Geschäftsmodell gesund ist. Es geht also um Qualität. Wir fragen uns, ob ein Geschäftsmodell hohe Renditen auf inkrementelle Investments bieten kann als eine Funktion der Positionierung im Markt, von Kernkompetenzen und Wettbewerbsvorteilen sowie der Umsetzung von ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance). Es geht also um all diejenigen Kriterien, die nachhaltigen Erfolg ausmachen. Und dann geht es natürlich darum, zu welchem Zeitpunkt man die Aktie kauft, also im Prinzip darum, welchen Preis man bereit ist, für die Aktie zu bezahlen.

Noch schwieriger als die Entscheidung, in einer Aktie zu investieren, ist es möglicherweise, den richtigen Zeitpunkt für einen Ausstieg zu finden. Wie gehen Sie in dieser Hinsicht vor?

Es gibt zwei mögliche Fälle. Sofern wir mit unserer ursprünglichen Investment-Entscheidung richtig gelegen haben und es zeichnet sich keine Veränderung hinsichtlich der Zukunftsperspektiven ab, dann bleiben wir investiert. Es stellt sich aber natürlich die Frage, ob wir die investierten Mittel effizienter verwenden könnten. Das andere Szenario ist der Fall, dass wir mit unserer Entscheidung für eine Investition falsch lagen. Es gilt dabei zu beachten, dass es zwar kurzfristig eine negative Nachrichtenlage geben kann, die aber von der langfristigen Einschätzung der Aktie zu unterscheiden ist.

Wie gehen Sie dabei in der Praxis vor?

Jede Investment-Entscheidung wird mit umfangreicher quantitativer und qualitativer Analyse untermauert. Damit können wir zu jedem Zeitpunkt vergleichen, ob und inwieweit sich die aktuelle Situationsanalyse von der ursprünglichen unterscheidet. Außerdem vergleichen wir zu jedem Zeitpunkt das Investment in einer Aktie mit möglichen anderen Investments, um zu beurteilen, wo möglicherweise bessere Chancen liegen, wobei es zum einen um die Qualität der Unternehmen geht und zum anderen um das mögliche Aufwärtspotenzial der Aktien. Und generell geht es immer darum, die Emotionalität aus Investment-Entscheidungen herauszunehmen.

Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.

Zur Person: Luke Barrs ist Global Head of Client Portfolio Management bei Goldman Sachs Asset Management in London und dabei auf den Bereich Fundamental Equity konzentriert. In seiner Rolle koordiniert er Strategie, geschäftliche Expansion und Kundenkommunikation im Bereich Fundamental Equity. Er ist zudem Senior Client Portfolio Manager und berät Kunden in dieser Funktion mit Blick auf ihre strategische Asset-Allokation und Entscheidungen in der Aktienanlage, vor allem mit Ausrichtung auf die Emerging Markets und andere langfristige säkulare Wachstumstrends. Er trat 2009 nach Abschluss seines Studiums bei Goldman Sachs ein und wurde 2019 zum Managing Director ernannt. 2008 machte er seinen Bachelor of Arts in Economics und Management am Exeter College der Universität Oxford.