Krisenpolitik

Ausweg aus der Pandemie gesucht

Vor einem Jahr wurde in Deutschland der erste Corona-Fall gemeldet. Seit drei Monaten verharrt das Land im zweiten Lockdown. Doch die Infektionszahlen sinken und die Forderungen nach einer Öffnungsstrategie werden lauter. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wirbt weiter für einen vorsichtigen Kurs.

Ausweg aus der Pandemie gesucht

Von Stefan Paravicini, Berlin

Ein Jahr nach dem ersten Corona-Fall in Deutschland beim Autozulieferer Webasto stößt die Bundesregierung mit ihrer Strategie zur Eindämmung des Virus zunehmend an die Grenzen. Zwar meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Dienstag erneut weniger Neuinfektionen in den zurückliegenden 24 Stunden als noch vor einer Woche und die Sieben-Tages-Inzidenz lag mit weniger als 108 Infektionsfällen pro 100000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen so niedrig wie nie seit Anfang November, als der zweite von Bund und Ländern vereinbarte Zwangsstillstand in Teilen des öffentlichen Lebens („Lockdown“) seit Ausbruch der Pandemie gestartet ist. Gleichzeitig wecken die sinkenden Zahlen Begehrlichkeiten in den Bundesländern, Mitte Februar erste Lockerungsschritte einzuleiten. Vom erklärten Ziel der Bundesregierung, die Sieben-Tages-Inzidenz unter 50 zu senken, dürfte man dann allerdings noch weit entfernt sein – vor allem dann, wenn hoch ansteckende Virusvarianten dem Infektionsgeschehen wie befürchtet zu neuer Dynamik verhelfen sollten.

Inzidenz 100 oder Zero-Covid

Erst in der vergangenen Woche hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gemeinsam mit den Chefs der 16 Bundesländer wegen möglicher Folgen einer Verbreitung von Mutationen beschlossen, den Lockdown noch einmal bis zum 14. Februar zu verlängern. Doch während die Kanzlerin zum Wochenbeginn in einer Sitzung mit den Fraktionschefs der Union in Bund und Ländern laut Medienberichten für einen noch strengeren Kurs warb, um mittelfristig einen Weg aus der Krise zu finden, drängt man in den Ländern auf eine kurzfristige Öffnungsperspektive. Zu den Vertretern einer offensiveren Öffnungsdebatte zählt unter anderem Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU). Sein Bundesland wies zuletzt eine Sieben-Tages-Inzidenz unterhalb von 100 aus, während der viel beachtete Wert in Thüringen oberhalb von 200 lag. Viele Städte und Kommunen im Norden verzeichneten zuletzt Inzidenzen unter dem als kritisch definierten Schwellenwert 50 und liegen im Soll der Bundesregierung.

Auch FDP-Chef Christian Lindner erneuerte gestern die Forderung, spätestens bis Mitte Februar eine Öffnungsperspektive zu schaffen, die auch von Wirtschaftsverbänden vehement gefordert wird. Kanzleramtschef Helge Braun soll mit Vertretern der Staats- und Senatskanzleien bis zum nächsten Bund-Länder-Treffen ein Konzept erarbeiten. Der neue CDU-Chef Armin Laschet versuchte nach der Präsidiumssitzung am Montag aber die Erwartungen zu dämpfen. „Derzeit ist für Öffnungsdiskussionen kein Raum“, sagte Laschet. Doch der Raum in der öffentlichen Debatte wächst mit jedem Absinken der Infektionszahlen.

Ein Inzidenzwert unter 50 soll sicherstellen, dass die Gesundheitsämter in Deutschland das Infektionsgeschehen möglichst lückenlos nachvollziehen und Infektionsketten unterbrechen können. Kritiker wie der Ökonom Michael Hüther, Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln, sind überzeugt, dass unter Umständen auch eine höhere Sieben-Tages-Inzidenz vertretbar ist. „Eine Inzidenz von 100 ist eine, mit der wir leben können“, sagte Hüther in dieser Woche in der ARD. Auf der anderen Seite stehen Verfechter einer „No-Covid“-Strategie, der sich auch der Ökonom Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts, angeschlossen hat. Ihnen geht es nicht darum, die Inzidenz bundesweit auf null zu senken – das wollen Verfechter einer „Zero-Covid“-Strategie –, aber lokal, wo möglich, Richtung null zu bewegen. Ein Problem bei der Bewertung der unterschiedlichen Strategien: Es mangelt immer noch an grundlegenden Daten zum Verständnis des Infektionsgeschehens. Über welche Inzidenz der beste Weg aus der Pandemie führt, ist deshalb schwer zu entscheiden.

Reisen nur ins Homeoffice

Geht es nach der Kanzlerin, führt der Ausweg aus der Pandemie offenbar nicht über touristische Auslandsreisen. Sie sei nicht für ein Reiseverbot, widersprach Merkel laut Reuters am Dienstag in einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zwar entsprechenden Medienberichten. „Es sollten aber möglichst keine touristischen Reisen stattfinden“, fügte Merkel nach Teilnehmerangaben hinzu. So solle das Risiko der Einschleppung von Mutationen reduziert werden.

Weil der Weg aus der Pandemie nach Einschätzung der Bundesregierung im Homeoffice leichter gelingt, gilt ab heute die von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in der vergangenen Woche auf den Weg gebrachte Homeoffice-Verordnung. Sie verpflichtet Arbeitgeber dazu, wenn möglich die Voraussetzungen für die Arbeit von zu Hause zu schaffen, und ist bis zum 15. März begrenzt.

In der Industrie wuchs zuletzt die Sorge, dass der Ausweg aus der Coronakrise auch über einen neuerlichen Lockdown der Wirtschaft verlaufen könnte und Lieferketten zusätzliche Belastungen durch Behinderungen im Grenzverkehr innerhalb der EU drohen. Von beidem war bei den jüngsten Bund-Länder-Gesprächen nicht die Rede. Der freie Warenverkehr ist laut Bundeskanzlerin Merkel „sowieso unstrittig“, wie sie vor dem EU-Gipfel in der vergangenen Woche betonte.

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