NOTIERT IN BRÜSSEL

Bärendienste und nicht gehörte Schüsse

Redezeit: 1:03 Stunden. Applaus von den Abgeordneten im EU-Parlament: weniger als eine Minute. Aber was bleibt nun wirklich von Jean-Claude Junckers Rede zur Lage der EU? Kritiker des EU-Kommissionspräsidenten und seines "Mehr Europa"-Plädoyers gibt...

Bärendienste und nicht gehörte Schüsse

Redezeit: 1:03 Stunden. Applaus von den Abgeordneten im EU-Parlament: weniger als eine Minute. Aber was bleibt nun wirklich von Jean-Claude Junckers Rede zur Lage der EU? Kritiker des EU-Kommissionspräsidenten und seines “Mehr Europa”-Plädoyers gibt es auf jeden Fall zuhauf. Gilbert Casasus zum Beispiel, Professor für Europastudien an der Schweizer Universität Fribourg, sprach davon, dass Juncker der EU einen Bärendienst erwiesen habe. “Gut gedacht, aber falsch getroffen” seien seine Ausführungen gewesen, so Casasus im Deutschlandfunk. Die gesamte Philosophie seiner Rede sei total fragwürdig. Er habe den Eindruck, der Luxemburger habe keine Lehren gezogen aus den vielen Krisen, mit denen die Europäische Union seit der Ablehnung des Verfassungsvertrages durch Holland und Frankreich im Jahr 2005 konfrontiert gewesen sei. Casasus plädierte für die Zukunft eher für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. *Der Ökonom und Wirtschaftsweise Lars Feld stieß in ein ähnliches Horn: “Ich habe den Eindruck, dass Herr Juncker den Schuss nicht gehört hat”, sagte er mit Blick auf eine Ausweitung der Eurozone. Wenn man vor dem Hintergrund der weiterhin nicht vollständig bewältigten Probleme im Euroraum, der Absetzungsbewegungen in Osteuropa und dem Brexit-Votum einfach nur mit mehr Europa antworte, und das im heikelsten Bereich der europäischen Einigung, “dann hat man sicher ein Problem auf der Ebene der Kommission”, sagte Feld im SWR. Man solle sich auf jeden Fall genügend Zeit nehmen, um sicherzustellen, dass es realwirtschaftliche Konvergenz gebe. *Doch hat Juncker in seiner Straßburg-Rede tatsächlich so viel Revolutionäres gesagt? Stehen die Beitrittmöglichkeiten zur Eurozone bei Erfüllung der festgelegten Kriterien nicht längst in den EU-Verträgen? Demnach, so wird in Brüssel prognostiziert, sollte eigentlich Bulgarien als nächstes Land reif für eine Euro-Einführung sein. Das niedrige Pro-Kopf-Einkommen des Landes und damit die Konvergenz in der Eurozone dürfte allerdings – auch wenn dies nicht zu den Maastricht-Kriterien gehört – noch einmal für durchaus hitzige Diskussionen in der Eurogruppe führen. *Die Reaktion der Bundesregierung war auf jeden Fall eher entspannt. Junckers Rede liege “auf der Grundlinie unserer europapolitischen Vorstellungen”, sagte Finanzminister Wolfgang Schäuble. “Wir wollen ein starkes, handlungsfähiges Europa.” Aber natürlich müsse man es richtig machen. Nach Worten des CDU-Politikers ist es gut, dass Juncker Druck und Tempo mache – auch wenn die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Wirtschafts- und Währungsunion natürlich erfüllt sein müssten, wie Schäuble in der ARD sagte. Heute und morgen wird er mit seinen europäischen Finanzministerkollegen im estnischen Tallinn beraten, wie eine Vertiefung der Währungsunion sinnvollerweise anzugehen ist. Ob auf dem informellen Ecofin-Treffen von den Teilnehmern der EU-Kommission bereits mehr Informationen kommen, was sich Juncker unter dem neuen Instrument zur Heranführung von Beitrittskandidaten an die Eurozone genau vorstellt, bleibt abzuwarten. *Auf Ebene der Regierungschefs bildete sich unterdessen eine griechisch-italienische Allianz gegen ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Paolo Gentiloni und Alexis Tsipras verkündeten auf jeden Fall nach einem Treffen gestern auf der Insel Korfu, sie wollten den europäischen Einigungsprozess beschleunigen und dabei die Interessen der südlichen EU-Länder wahren. Es könne nicht zwei unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Wirtschaft geben, eine im Norden und eine im Süden Europas, sagte Italiens Ministerpräsident Gentiloni, der “mutige Entscheidungen” in der EU verlangt, um Wachstum und Beschäftigung durchzusetzen. Sollte es tatsächlich einen EU-Finanzminister geben, müsse auf jeden Fall die demokratische Kontrolle klar definiert sein.