NOTIERT IN TOKIO

Blicke in die Prüfungshölle

Ganz Japan beschäftigt sich gerade mit einem Teilnehmer an der landesweiten Aufnahmeprüfung für die Universitäten, die am vergangenen Wochenende stattgefunden hatten. Der Mann hatte sich geweigert, die Maske wie vorgeschrieben auch über der Nase zu...

Blicke in die Prüfungshölle

Ganz Japan beschäftigt sich gerade mit einem Teilnehmer an der landesweiten Aufnahmeprüfung für die Universitäten, die am vergangenen Wochenende stattgefunden hatten. Der Mann hatte sich geweigert, die Maske wie vorgeschrieben auch über der Nase zu tragen. Nach sechs Ermahnungen wurde er disqualifiziert und musste den Saal verlassen. Danach schloss er sich stundenlang in einer Toilette ein, bis die Polizei ihn herausholte und festnahm. Das öffentliche Mitleid galt jedoch jenen 200 Oberschulabsolventen, die wegen dieses Vorfalls ihre Prüfung unterbrechen und in einen anderen Raum umziehen mussten. Dazu muss man wissen: Für dieses Examen, vergleichbar mit einer deutschen Abiturprüfung in bis zu zehn Fächern – nur deutlich anspruchsvoller – hatten die jungen Leute zwölf Monate lang von morgens bis abends gebüffelt, viele Stunden Nachhilfeunterricht in privaten Paukschulen absolviert und immer wieder Probeaufgaben gelöst. Diese brutal lange und intensive Vorbereitungszeit, der sich diesmal 535 000 Oberschulabsolventen unterzogen, nennen die Japaner die “Prüfungshölle”. Das Ziel ist eine möglichst hohe Punktzahl im Examen.Denn je weiter oben eine Universität in der nationalen Rangliste steht, desto höher ist die Punktzahl, die sie für die Zulassung verlangt. Zugleich gilt: Je höher der Rang der erreichten Universität, desto sicherer ist eine Feststellung bei Top-Unternehmen wie Toyota und Sony oder als Karrierebeamter. Zudem streben Prüflinge aus niedrigen sozialen Schichten einen Studienplatz an einer guten staatlichen Universität an. Deren Studiengebühren sind im Schnitt um mehr als die Hälfte niedriger als bei den privaten Universitäten.Vom Ergebnis der Zentralprüfung hängt die berufliche und finanzielle Zukunft der Studenten in Japan also viel mehr ab als beim deutschen Abitur. Diejenigen, die mit der erreichten Punktzahl und deren Zulassungschancen unzufrieden sind, lernen daher oft ein ganzes Jahr lang weiter und versuchen, bei der nächsten Zentralprüfung ihr Ergebnis zu verbessern. Der Anteil dieser Ronin-Schüler, die nach den herrenlos umherwandernden Samurai-Kriegern der Feudalzeit benannt sind, betrug diesmal 15 %.Die Zahl der Wiederholer war allerdings niedriger als sonst, weil das System erstmals seit 31 Jahren geändert wurde. Die größte Reform galt der Multiple-Choice-Auswahl der Antworten. Die ursprünglich geplante Abschaffung in einigen Fächern wie Japanisch scheiterte am Protest vieler Eltern, die eine subjektive Bewertung von selbst geschriebenen Lösungen als unfair ablehnten. Aber nun sind die Fragen und die vorgegebenen Antworten so formuliert, dass sich damit Wissensqualität und Urteilsfähigkeit besser als in der Vergangenheit messen lassen. Dadurch steigt der Schwierigkeitsgrad der Prüfung, während der erreichte Punktedurchschnitt sinkt.Auch eine Änderung im Fach Englisch erzeugte zusätzlichen Stress, weil das Hörverständnis erheblich höher gewichtet wurde als zuvor. Bisher machte dieser Teil nur 20 % der erreichbaren Punkte aus, nun sind es 50 %. Doch diese Fähigkeit wurde bisher wenig geübt, auch ist Englisch von Muttersprachlern in Japan selten zu hören. Für weitere Komplikationen sorgte die Corona-Pandemie. Maskentragen war während der gesamten Prüfung Pflicht. Mit warmer Kleidung sollte man sich vor Kälte und Luftzug beim Lüften der Räume während der Pausen schützen.Schon am Montag, abhängig von Wunschfach und Zielhochschule, wussten die Teilnehmer, ob sie genügend Punkte erzielt hatten. Die Tageszeitungen veröffentlichten sämtliche Lösungen, so dass die Prüflinge anhand der Aufgaben, die sie mitnehmen dürfen, ihr Ergebnis selbst ausrechnen können – für die einen ein bitterer und für die anderen ein freudiger Moment der Wahrheit. Doch für die ganz Ehrgeizigen, die sich für eine staatliche Top-Universität qualifiziert haben oder das separate Zugangsexamen einer privaten Eliteuniversität anstreben, dauert die Prüfungshölle noch bis zu zwei weitere Monate an. Denn die absoluten Top-Adressen wie die Universität Tokio und die Universität Kyoto benutzen das Testergebnis nur zur Vorauswahl und veranstalten im Februar und März noch eigene Eingangsexamen.