NOTIERT IN BUENOS AIRES

Corona ist nicht das einzige Problem Argentiniens

Wenn der Autor dieser Zeilen aus seiner Haustüre tritt und 25 Meter zur Ampel geht, dann fällt sein Blick auf etwa 15 kleine Geschäfte an der Avenida Triunvirato. Ein chinesischer Supermarkt ist offen, ein Kiosk und eine Eisdiele. Alle anderen sind...

Corona ist nicht das einzige Problem Argentiniens

Wenn der Autor dieser Zeilen aus seiner Haustüre tritt und 25 Meter zur Ampel geht, dann fällt sein Blick auf etwa 15 kleine Geschäfte an der Avenida Triunvirato. Ein chinesischer Supermarkt ist offen, ein Kiosk und eine Eisdiele. Alle anderen sind dicht. Zwei Bierkneipen, ein Lampengeschäft, eine Eisenwarenhandlung und eine Babykleidungsboutique haben ihren Betrieb eingestellt, an ihren Scheiben hängen nun die Schilder: “Zu vermieten”, “Wir können nicht mehr” und: “Räumungsverkauf, alles muss raus!” Dieses Schild hat der ältere Herr, der hier seit 20 Jahren Möbelbeschläge feilhielt, an seine Ladentür gehängt. Aber nicht mal die Liquidation klappt, denn der Laden ist nun wieder verrammelt. Denn am Mittwoch wurde die “obligatorische soziale Isolation” noch einmal drastisch verschärft. Bis einschließlich 17. Juli dürfen im Bereich der argentinischen Hauptstadt nur noch “essenzielle” Dienste geleistet werden, also Gesundheit, Sicherheit und Grundversorgung: Supermärkte, Apotheken, Banken. Sonst nichts.Diese neue Schockstarre trifft die Metropole nach bereits 103 Tagen Lockdown. Dieser begann am 20. März, als gerade mal zwei Menschen am neuen Coronavirus gestorben waren. Und der ermöglichte es, die Ausbreitung des Keims so weit zu bremsen, dass das schon vor der Pandemie unzureichende Gesundheitssystem standhalten konnte. Mit etwa 65 000 Erkrankten und knapp 1 400 Toten steht Argentinien wesentlich besser da als die meisten seiner Nachbarn.Argentiniens peronistische Regierung will ein Massensterben unbedingt vermeiden, denn sie weiß, dass Covid-19 vor allem dort fatal zuschlagen würde, wo ihre Wahlbasis daheim ist: in den 1 600 “prekären Wohnvierteln” im Conurbano, dem Armutsgürtel um das vergleichsweise wohlhabende Buenos Aires. In diesem Elend, das sich mit jeder der zyklischen Krisen ausbreitete, hat nicht nur der Populismus sein ideales Habitat, sondern auch der Erreger: Platzmangel, kaum Wasser, keine Heizung. Drei Millionen Menschen hausen so, ohne jede Möglichkeit für Social Distancing. Den Behörden, die in diesen Barrios den Hausarrest nicht durchsetzen können und die zudem mit dem Testen nicht nachkommen, bleibt nun, nach stark gestiegener Intensivbetten-Belegung, nur noch eine Option: Stecker ziehen. Wieder. Sofort. *Die gesundheitliche Katastrophe wird Präsident Alberto Fernández so mit viel Glück vielleicht vermeiden können. Aber die wirtschaftliche ist längst da: Bereits ein Fünftel der gut 500 000 Klein- und Mittelbetriebe des Landes hat dichtgemacht, am Montag meldete das Statistikamt, dass die Gesamtwirtschaftsleistung im April um 26,4 % eingebrochen sei, und das im Vergleich zum miserablen Vorjahresmonat. Und der Internationale Währungsfonds hat seine Jahresschätzung auf minus 9,9 % revidiert – aber die Prognose kam, ehe der neue Lockdown verkündet wurde.So kann es gut sein, dass Argentiniens weitere Wirtschaftsentwicklung tatsächlich so mager ausfällt, wie sie Finanzminister Martín Guzmán in den Umschuldungsverhandlungen in New York darlegt. Den privaten Gläubigern erzählt er, dass sein Land bis 2030 nur um maximal 2,3 % pro Jahr wachsen werde. Träfe das zu, wäre Argentinien in zehn Jahren ärmer als Paraguay.Die skeptischen Gläubiger haben Guzmán bereits zu drei Verbesserungen des argentinischen Angebots gebracht. Ursprünglich wollte der langjährige Assistent des Wall-Street-Kritikers Joseph Stiglitz nicht mehr als etwa 36 % der 67 Mrd. Dollar begleichen. Inzwischen bietet Argentinien 53 % sowie einen Bonus für jene Investoren, die zuerst einschlagen.In den vergangenen Tagen haben die ersten Fonds akzeptiert, aber immer noch sperrt sich eine Gruppe um den Vermögensverwalter BlackRock. Der Streit um die sogenannten Collective-Action-Klauseln hat sich am 17. Juni verhakt. Während Argentinien am Dienstag die Auszahlung von mehr als 600 Mill. Dollar Zinsen verweigerte, versuchen dessen Verhandler, BlackRocks Verbündete zu ködern und so den größten Gläubiger zu isolieren. Argentinien bleiben nur noch Wochen, um die Pandemie nicht zum Pandämonium ausarten zu lassen.