Das kaum zu lösende EU-Personalpuzzle
Von Andreas Heitker, Brüssel und Mark Schrörs, FrankfurtDreieinhalb Wochen sind seit der Europawahl vergangen, und noch immer zeichnet sich keinerlei Einigung im Poker um die Führungsposten der EU-Institutionen ab. Weder Ratspräsident Donald Tusk, der im Auftrag der Staats- und Regierungschefs Optionen auslotet, noch die Fraktionschefs des EU-Parlaments haben in der Frage der Top-Jobs bislang Erfolge vermelden können.Gesucht werden neue Präsidenten für die EU-Kommission, das EU-Parlament, die Europäische Zentralbank (EZB), den EU-Rat, ein neuer EU-Außenbeauftragter und eventuell auch ein neuer Eurogruppen-Chef. Es gilt, die Posten parteipolitisch ausbalanciert, regional ausgewogen und natürlich gendergerecht zu verteilen. Möglicherweise ist hier eine zu komplexe Gleichung mit zu vielen Nebenbedingungen zu lösen. EU-Parlament wählt am 2. JuliAm Donnerstag versuchen sich an dieser Rechnung noch einmal die “Mathematiker” des Europäischen Rates. Doch dass der EU-Gipfel bereits eine große Einigung erzielt, glaubt derzeit niemand. Als viel wahrscheinlicher gilt, dass sich die Regierungschefs in den letzten Juni-Tagen noch einmal zu einem Sondergipfel treffen. Sicher ist nur: Am Vormittag des 2. Juli kommt in Straßburg das neue EU-Parlament zur konstituierenden Sitzung zusammen. Und die erste Amtshandlung wird sein, einen neuen Präsidenten zu wählen. Damit wäre das erste Puzzlestück unwiderruflich gesetzt.Wer sich zur Wahl stellt, ist noch nicht geklärt. Ambitionen hätte auf jeden Fall Guy Verhofstadt, der frühere belgische Ministerpräsident und bisherige Fraktionschef der Liberalen. Sollte der 66-Jährige tatsächlich kandidieren, hätte er die Stimmen der beiden größten Fraktionen – der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokraten – sicher: Denn mit einer Wahl des Belgiers hätten die Liberalen ihr Pulver im weiteren Personalpoker wohl erst einmal verschossen und könnten sich Ambitionen auf die Führung der nächsten EU-Kommission oder des EU-Rates wohl abschminken.Sollte es bis Anfang Juli noch keine Einigung auf ein umfassendes Personaltableau geben, wäre es daher wahrscheinlicher, dass das Amt des EU-Parlamentspräsidenten den Grünen zugeschlagen wird – zumindest für die erste Hälfte der Legislatur. Die Ökopartei könnte damit erstmals ein solch hohes Amt in der EU besetzen. Und nach außen könnte das Zeichen gesetzt werden, dass Klima- und Umweltpolitik in den nächsten Jahren Arbeitsschwerpunkt wird. Mit ihrer Fraktionschefin Ska Keller hätten die Grünen zudem eine geeignete Kandidatin zu bieten.Im aktuellen Geschacher um die Top-Jobs konzentrieren sich allerdings alle Beteiligten derzeit zunächst auf den Chefposten in der EU-Kommission. Dieses Amt gilt zumindest in Brüssel als das macht- und einflussreichste. Und von dieser Besetzung, so die Hoffnung, lassen sich dann alle weiteren Personalentscheidungen ableiten. Macron will Weber nichtDer CSU-Politiker Manfred Weber ist weiter im Rennen. Die EVP, deren Spitzenkandidat er war, bildet auch künftig die stärkste Fraktion im Parlament. Klar ist: Ohne die EVP ist keine Mehrheitsbildung möglich. Weber hat allerdings das Problem, dass sich einige liberale Staats- und Regierungschefs – allen voran Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – schon deutlich öffentlich gegen ihn ausgesprochen haben. Mit welchen Zugeständnissen dies wieder einzufangen ist, gilt als völlig unklar.Vor fünf Jahren hatte auch Jean-Claude Juncker nicht alle 28 Mitglieder des Europäischen Rates auf seiner Seite: Viktor Orbán aus Ungarn und David Cameron aus Großbritannien wurden schließlich überstimmt. Mit Macron und den Liberalen ist dies 2019 nicht so einfach möglich. Vieles wird in dem Zusammenhang von einer Einigung von Macron mit Bundeskanzlerin Angela Merkel abhängen. Dabei gilt die Regel: Entweder Deutschland und Frankreich erhalten je einen der einflussreichsten Posten (Kommission oder EZB), oder beide gehen leer aus.Webers theoretisch wichtigster Konkurrent ist Frans Timmermans, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, die weiter die zweitstärkste Kraft im neuen EU-Parlament sind. Der frühere niederländische Außenminister und heutige Juncker-Stellvertreter wird von vielen auch als idealer neuer Außenbeauftragter der EU gesehen. Die Sozialdemokraten dürften mit diesem Posten allein allerdings kaum zufrieden sein.Als sicher gilt: Je länger sich Weber und Timmermans gegenseitig blockieren, umso größer werden die Chancen von Margrethe Vestager, neue Präsidentin der Brüsseler Behörde zu werden. Die Dänin kommt aus der Parteienfamilie von Macron, und auch Merkel hält große Stücke auf die durchsetzungsstarke Wettbewerbskommissarin. Vestager hat aber zwei Probleme: Zum einen kommt sie aus einem Nicht-Euro-Land, und zum anderen ist immer noch umstritten, ob sie im Wahlkampf als Spitzenkandidatin der Liberalen agiert hat – und damit auch als wählbar gilt.Sollten die Staats- und Regierungschefs auf ihrem anstehenden Gipfel allerdings das Spitzenkandidaten-Prinzip wieder verwerfen, würden sie das Kandidatenkarussell auch noch einmal für weitere Bewerber öffnen: Genannt werden in diesem Fall in Brüssel immer wieder zwei Landsleute von Macron: Brexit-Unterhändler Michel Barnier und IWF-Chefin Christine Lagarde.Auch in Notenbankkreisen herrscht aktuell vielfach großes Achselzucken, wenn es um den EU-Jobpoker und die Nachfolge von EZB-Präsident Mario Draghi geht. “Aktuell ist es schwer, sich ein Personaltableau vorzustellen, das für alle Regierungen zustimmungsfähig ist”, sagt ein Notenbanker. Zwischenzeitlich gab es auch mal Überlegungen, den EZB-Chefposten aus dem Jobpaket zu nehmen, aber das hat sich inzwischen wieder erledigt. Kampf um die EZB-SpitzeFür den Fall, dass es Weber doch noch an die Spitze der EU-Kommission schaffen sollte, wäre klar, dass Bundesbankpräsident Jens Weidmann nicht mehr als Draghi-Nachfolger in Frage kommt. Für den Fall spekulieren auch in Notenbankkreisen viele auf einen Franzosen, allen voran Frankreichs Zentralbankchef François Villeroy de Galhau. Villeroy de Galhau gilt auch vielen EZB-Beobachtern derzeit als Top-Favorit (vgl. BZ vom 9. Mai). Immer mal wieder fällt auch der Name von Villeroy de Galhaus Stellvertreterin Sylvie Goulard. Sie hat den Vorteil, eine Frau zu sein, und ist bei Frankreichs Präsident Macron wohl besser gelitten. Die ehemalige EU-Abgeordnete gilt vielen aber immer noch primär als Politikerin.Falls es Weber nicht schafft, wäre Weidmann wieder mittendrin im Rennen. Weidmann gilt vielen Experten als der fachlich am besten geeignete Kandidat. Allerdings war er in der Vergangenheit ein großer Kritiker vieler EZB-Maßnahmen in der Krise. Vor allem aber hat er das Staatsanleihekaufprogramm OMT abgelehnt, mit dem die EZB in Not geratenen Euro-Ländern 2012 Hilfe zugesagt hat und das vielen als entscheidend zur Überwindung der Euro-Krise gilt. Die Frage, ob Weidmann sich im Notfall hinter OMT stellen würde, halten viele Beobachter für zentral bei der Beurteilung von Weidmanns Eignung für den EZB-Chefposten.Weidmanns Chancen hingen dann aber sicher auch davon ab, wer statt Weber an die Spitze der EU-Kommission rückt. Sollte beispielsweise ein kleines Land zum Zug kommen, wie im Fall Vestagers (Dänemark) oder Timmermans` (Niederlande), scheint es eben kaum denkbar, dass Frankreich einen Deutschen an der Spitze der EZB akzeptieren würde, ohne selbst einen Top-Posten zu bekommen. Andererseits scheint es für den Fall auch fraglich, ob ein Kompromisskandidat aus einem kleinen Land in Frage käme – wie etwa aus Finnland Olli Rehn (Zentralbankchef) und Erkki Liikanen (Ex-Zentralbankchef).Und wer folgt Donald Tusk als Ratspräsident? Dies klärt sich erst, wenn die Führungsfrage in der EU-Kommission und der EZB entschieden ist. Der gerade abgewählte belgische Regierungschef Charles Michel von den Liberalen hätte wohl Interesse, ebenso Dalia Grybauskaite, die ebenfalls im Mai abgewählte Präsidentin Litauens. Genauso häufig ist in Brüssel aber auch der Name Mark Rutte zu vernehmen, der aktuelle niederländische Ministerpräsident.