NOTIERT IN LONDON

Das Märchen von den "weißen" Brexiteers

Mehr als 2 000 Menschen haben sich bereits bei der britischen Rundfunkaufsicht Ofcom über Jon Snow (71) beschwert, den altgedienten Moderator von Channel 4 News, der einfach nicht in den wohlverdienten Ruhestand gehen will. Den Anlass gab seine...

Das Märchen von den "weißen" Brexiteers

Mehr als 2 000 Menschen haben sich bereits bei der britischen Rundfunkaufsicht Ofcom über Jon Snow (71) beschwert, den altgedienten Moderator von Channel 4 News, der einfach nicht in den wohlverdienten Ruhestand gehen will. Den Anlass gab seine Beschreibung einer Demonstration von Brexit-Befürwortern in Westminster. “Die Stimmung ist umgeschlagen”, berichtete ein geschockter Snow. Gezeigt wurden dazu Bilder verärgerter Menschen vor der Downing Street, Schreiereien, die den Eindruck erweckten, dass sie sich schnell zu handfesten Auseinandersetzungen mit den zahlreich vor Ort befindlichen Sicherheitskräften entwickeln könnten. “Wir können nicht bestätigen, dass es zu Festnahmen gekommen ist. Es war ein ganz und gar außergewöhnlicher Tag, an dem … Ich habe noch nie so viele Weiße an einem Ort gesehen. Es ist eine außergewöhnliche Geschichte. Überall sind Leute. Überall sind Menschenansammlungen.”Zu der außergewöhnlichen Geschichte hätte gehört, dass nur eine kleine Gruppe dem Rechtsextremisten Tommy Robinson und Gerald Batten von Ukip zum Sitz der Premierministerin gefolgt war. Auch Journalisten wurden von diesen Leuten bedrängt. Die von “Leave Means Leave” und “Make Brexit Happen” veranstaltete Großdemonstration verlief dagegen so friedlich wie am Wochenende zuvor eine Veranstaltung der Austrittsgegner, über die der Sender äußerst wohlwollend berichtet hatte. Am Ende gab es fünf Festnahmen, lediglich eine wegen eines Angriffs auf einen Polizisten.Es dürften nicht mehr “weiße” Demonstrationsteilnehmer zu sehen gewesen sein als bei der “Put it to the People”-Kundgebung in der Vorwoche. Vielleicht waren etwas weniger privilegierte Bewohner des Londoner Speckgürtels unterwegs. Die Brexit-Befürworter hatten vielleicht weniger Quiche von Waitrose im Gepäck, dafür mehr Würstchen im Schlafrock von Greggs. Aber Snow ging es wohl nur darum, dem immer wieder gern bemühten Märchen, dass die Bewegung für den EU-Austritt von alten, ungebildeten, rassistischen und zu allem Übel auch noch “weißen” Angehörigen der Unterschicht dominiert wurde, ein weiteres Detail hinzuzufügen.Dabei waren unter den Brexit-Befürwortern 2016 viele Einwanderer aus der Karibik und Südasien, die nicht einsehen wollten, warum Großbritannien ihren Familienangehörigen den Nachzug erschwerte, dafür aber jedem Arbeitsuchenden aus den Armutsregionen Südosteuropas die Tür aufhalten musste. Sie hofften darauf, dass künftig alle Zuwanderer gleich behandelt werden. Zu den bekannteren “nichtweißen” Brexiteers gehören der linke Intellektuelle Tariq Ali, die Krimiautorin Dreda Say Mitchell und die Sängerin und Journalistin Dia Chakravarty. Auch die frühere Londoner Kulturbürgermeisterin Munira Mirza sprach sich für den EU-Austritt aus. Es dürfte kein Zufall sein, dass solche Stimmen selten zu Wort kommen, wenn ein Brexiteer für eine Talkrunde im Fernsehen gesucht wird. Einerseits versuchen sie nicht ständig, sich in den Vordergrund zu spielen. Andererseits widerspricht ihre Existenz dem Klischee von den rein “weißen” Austrittsbefürwortern. “Es wird Zeit, dass unsere Stimmen in der Debatte gehört werden”, fordert der Autor Manick Govinda. Es müsse Schluss damit sein, dass man die Angehörigen von Minderheiten, die für den Brexit gestimmt haben, einfach verschwinden lasse. Es habe sich um “einen spontanen Kommentar gehandelt, der seine Beobachtung wiedergab, dass für eine Londoner Demonstration dieser Größe ethnische Minderheiten deutlich unterrepräsentiert zu sein schienen”, hieß es zu Snows Äußerungen vom Sender. Sollte sich jemand dadurch beleidigt fühlen, bedauere man das. Snow äußerte sich gar nicht erst dazu. Ofcom prüft die Beschwerden. Man habe aber noch nicht entschieden, ob man sie näher untersuchen werde, teilte der Regulierer mit. Es wäre schön, wenn er sich dazu durchringen könnte. Im von Identitätspolitik zutiefst vergifteten politischen Klima Großbritanniens ist jeder Verweis auf die Hautfarbe der Demonstranten dazu angetan, Konflikte zu schüren. Von Angehörigen der Oberschicht wie Snow kann erwartet werden, dass sie andere Ausdrucksformen für ihre politischen Ansichten finden.