Das russische Krebsübel
Ab und an ruft mich einer meiner Verwandten an. Er, Polizist in Österreich, steht nämlich mitunter vor einem sprachlichen Problem, wenn er Fahrzeuge aus Russland, Weißrussland oder der Ukraine auf der Straße anhält. Kürzlich wieder mal einen Lastwagen, dessen russischer Lenker ein Fahrverbot für ein gewisses Gesamtgewicht übersehen hatte. Ich möge ihm übersetzen und erklären, dass er umkehren und 400 Euro Strafe zahlen müsse, so die Bitte. Der Fahrer, hörbar fassungslos, erklärte seinerseits, dass er keine Kreditkarte bei sich habe und in bar kaum mehr als 100 Euro. Nach längerem Hin und Her gaben die Polizisten klein bei und baten mich, dem Russen zu bedeuten, dass er 50 Euro zu zahlen habe, womit die Angelegenheit erledigt sei. Dieser, erleichtert, legte nur noch eine Frage an mich nach: “Jedem der drei?”Offenbar war er noch nicht so oft in Europa unterwegs, um zu wissen, dass die Strafe hier – gegen Quittung – an den Staat geht. Die Praxis war im postsowjetischen Raum über Jahrzehnte eine gänzlich andere. Mit Bakschisch ließ sich vieles lösen. Im russischen Straßenverkehr etwa sah das auch so aus, dass man als Lenker oft ganz selbstverständlich 1 000 Rubel oder mehr in den Führerschein eingelegt hatte. Diese Praxis schwindet inzwischen, und eine andere Kultur kehrt ein. Es ist zwar noch nicht sehr riskant, aber peinlich, wenn ein Lenker Bestechungsgelder anbietet und der Polizist dieses nicht mehr nimmt.Ganz offenbar lautet das Kommando von oben, hier einen anderen Weg einzuschlagen. Früher war es noch so, dass Kremlchef Wladimir Putin vor einer härteren Gangart zurückgeschreckt war. Und zwar mit einem interessanten Argument, wie ein russischer Großunternehmer von einem Gruppengespräch mit Putin berichtete: Würde er im Innenministerium für Ordnung sorgen, würden die Beamten überhaupt zu arbeiten aufhören, soll Putin gesagt haben.Putin hatte sich in der Frage von Reformen, Korruptionsbekämpfung und effizienter Verwaltung immer das georgische Beispiel vorhalten lassen müssen. Dort hatte ja der einstige Präsident Michail Saakaschwili nach der “Samtenen Revolution” 2003 einen strukturell beispiellosen Radikalumbau des Staates vorgenommen, die korrupten Beamten und Polizisten mit Nulltoleranz rausgeworfen und im Handumdrehen eine vorbildliche Kultur des korrekten Umgangs mit der Bevölkerung etabliert – unter anderem mit hohen persönlichen Haftungen der Exekutivbeamten bei Fehlverhalten.Putin hat sich beim Vergleich mit seinem georgischen Erzgegner Saakaschwili immer damit verteidigt, dass er auf die geografische Größe Russlands verwies, die einen solchen Umbau erschwere. Nun also ist ein merklicher Fortschritt bei der Straßenpolizei erzielt.In anderen Bereichen freilich liegt weiter ganz viel im Argen. Womit wir bei Alexej Nawalny wären, der sich nach seiner Vergiftung und Genesung ja noch immer in Deutschland befindet. Genau der Kampf gegen die Korruption war eines seiner zwei Großthemen, mit dem er vor etwa einem Jahrzehnt als Oppositionspolitiker groß geworden ist. Das andere Thema war ein – mehr oder weniger dosierter – Nationalismus. In der Bevölkerung war der Widerwille gegen das Krebsübel Korruption neben dem Wunsch nach einem neuen Gesicht offenbar so stark, dass Nawalny alle anderen Oppositionspolitiker in den Schatten stellte und dem Kreml schon bald einen Schrecken einjagte.Über all die Jahre hinweg hat er mit seiner investigativen und 30 Mitarbeiter starken “Stiftung für Korruptionsbekämpfung”, der landesweit “besten Ermittlungsstruktur”, wie er sie selbst nennt, schonungslos – und nebenbei unterhaltsam – offengelegt, welche Reichtümer die Machthaber beiseitegeschafft oder sich durch Vetternwirtschaft bzw. Korruption bis hin zur Erpressung angeeignet haben. Millionenfach geklickte Enthüllungsvideos wurden auch zu einem politischen Kapital, wie diverse regionale Wahlerfolge gezeigt haben.”Ich hasse dieses Regime, weil es auf Korruption aufbaut und mein Land zerstört”, hatte Alexej Nawalny vor knapp elf Jahren, als ich ihn zum ersten Mal traf, gesagt. Er war, ist und bleibt ein Stachel im Fleisch des Kremls und vieler Einzelpersonen im russischen Establishment.