Der Dicke gegen den Corona-Blues
Werbespots haben eher selten Nachrichtenwert. In Spanien ist die offizielle Präsentation der Kampagne für die große Weihnachtslotterie jedoch jedes Jahr ein Ereignis, das in den Fernsehnachrichten und in den Medien gefeiert wird. Der aufwendig gefilmte Spot der staatlichen Lotería de Navidad versucht immer ein Stimmungsbild der Gesellschaft wiederzugeben und die Spanier zum Fest zusammenzubringen. Denn kaum etwas bindet die Leute mehr als die Lose mit der Aussicht auf “El Gordo” (“der Dicke”), den Hauptgewinn. Drei von vier Spaniern und Spanierinnen nahmen letztes Jahr an der Verlosung teil und gaben im Schnitt 62,20 Euro für die Lose aus. Die diesjährige Ziehung am 22. Dezember steht unvermeidlich unter dem schlechten Stern der Corona-Pandemie, wie es auch der Werbespot festhält. Das Video zeigt eine historische Reise, von einem Vater zu Beginn des Jahrhunderts, der seinem Sohn ein Los mit auf den Weg in die Emigration gibt, über den Gastarbeiter in einer deutschen Fabrik in den 1970er Jahren (“Wir fordern die Mitarbeiter des Produktionssektors auf, sich an ihre Arbeitsplätze zu begeben”, hallt es da auf Deutsch aus einer Sprechanlage) bis zur modernen Bürogemeinschaft, die gemeinsam den Gewinn feiert. Am Ende sieht man eine junge Frau, die von ihrer älteren Nachbarin ein Los geschenkt bekommt, als Dank dafür, dass sie sich während der Pandemie um sie gekümmert hat. Beide Frauen verkneifen sich den Ansatz einer Umarmung und lächeln sich stattdessen an, wie es den geltenden Abstandsregeln gebührt. “Dieses Jahr teilen wir wie noch nie”, heißt der Slogan.Denn der Reiz der Lotería de Navidad ist, dass man, anders als bei anderen Lottoverfahren, nicht alleine gewinnt. Es sei denn, man kauft alle 1 720 “décimos”, wie die Anteile zum Preis von 20 Euro heißen, die es für jede der 100 000 Nummern im Lostopf gibt. Beim Hauptgewinn “El Gordo” bekommt jeder “décimo” (“Zehntel”) 400 000 Euro. Also freuen sich Jahr für Jahr gleich hunderte Hauptgewinner über den Geldregen, gefolgt von unzähligen weiteren, die die restlichen Preise abbekommen. Die Lotería de Navidad ist die größte Lotterie der Welt, mit einem Umsatz von 2,9 Mrd. Euro im letzten Jahr, wovon ganze 2,38 Mrd. an Gewinnen ausgeschüttet wurden, auch das eine einzigartige Quote.Doch Sars-CoV-2 attackiert viele der Gepflogenheiten, welche diese Auslosung so besonders machen. Das Teilen der Hoffnung auf das Glück fällt in Corona-Zeiten schwerer. Durch das Homeoffice ist der Gruppenzwang beim Kauf der gemeinsamen Losnummer im Büro geschwunden. Bars und Restaurants, die normalerweise Lose an ihre Stammgäste verkaufen, mussten vielerorts schließen. Bis November lagen die Verkaufszahlen 25 % unter dem Vorjahresniveau. Die Schlangen vor den staatlichen Lotto-Annahmestellen, bei denen abergläubische Menschen eine höhere Gewinnchance erwarten, sind in diesem Jahr kürzer. Dafür haben Lottobuden wie Doña Manolita in Madrid oder La Bruja de Oro im katalanischen Lleida ihren Online-Verkauf verstärkt. Man kann die gewählte Losnummer deponieren oder sich den Loszettel für einen Aufpreis zuschicken lassen. Die Behörden warnen jedoch vor Betrug im Netz. Eine Losannahmestelle in Alicante bietet den Kunden eine Art Kaufvertrag im Blockchain-Format. Selbstverständlich zieht die Weihnachtslotterie auch in der analogen Welt kriminelle Elemente an. Im Madrider Vorort Pinto wurden 300 “décimos” gestohlen. Wer ein Los der Nummer 95 920 gekauft hat, sollte dies unverzüglich der Polizei melden, allein schon um einer potenziell derben Enttäuschung zu entgehen, denn für die gestohlenen Zehntel wird es keine Gewinne geben.Wer eine bestimmte der fünfstelligen Nummern sucht, findet im Internet diverse Suchportale, die einem die entsprechende Verkaufsstelle melden. Denn nicht jede Bude verkauft jede Nummer. So gibt es etwa die 66 666 nur in Annahmestellen in Sant Cugat bei Barcelona, Santander, Burgos, Madrid und Alaquás bei Valencia. In der zweiten Welle der Pandemie beweisen die Spanier einmal mehr Galgenhumor. Die Nummer 14 320 ist ausverkauft, da sich viele Menschen vom Beginn des Alarmzustandes am 14. März irgendwie noch etwas Positives für dieses unheilvolle Coronajahr 2020 versprechen.