Der hohe Ölpreis rettet Russland nicht mehr

Regierung senkt BIP-Prognose deutlich - US-Sanktionen zeigen Wirkung - Mangel an Investitionen

Der hohe Ölpreis rettet Russland nicht mehr

Von Eduard Steiner, MoskauRussland nutzt offenbar die Fußball-Weltmeisterschaft, um unangenehme Wahrheiten möglichst unbemerkt auf den Tisch zu bringen. Das hat die Regierung gleich zu Beginn der Großveranstaltung praktiziert, als sie den Gesetzgebungsprozess zur Anhebung des Renteneintrittsalters im Parlament losgetreten hat. Und das praktiziert sie auch seit voriger Woche wieder, in der das zuständige Ministerium ein realistischeres Bild über die Entwicklung der Wirtschaft der kommenden Jahre gezeichnet und die Wachstumsprognose abgesenkt hat. Breite StimmungseintrübungIn allen Parametern haben sich die Aussichten eingetrübt, schreibt das Ministerium zur Begründung. Unterm Strich werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) schon in diesem Jahr langsamer steigen als bisher angenommen – konkret um 1,9 % statt 2,1 %. Im kommenden Jahr sind dann sind statt der bisher angenommenen 2,2 % lediglich noch 1,4 % zu schaffen. Danach soll es dann aber schneller gehen mit dem Wachstum. 2020 dürfte es dann um 2,0 % bergauf gehen und 2021 sogar um 3,1 %. Zwischen 2022 und 2024 sei jährlich mit 3,2 % Wachstum zu rechnen. Die Zahlen sind für ein Schwellenland ein Desaster. Russlands Wirtschaft müsste eigentlich um 4 % bis 5 % zulegen, um das globale Wirtschaftswachstum zu übertreffen und so den Abstand zu westlichen Industrieländern zu verkleinern. Es passiert aber das Gegenteil. Daran war zuletzt natürlich besonders die ölpreis- und sanktionsbedingte Rezession in den Jahren 2015 und 2016 schuld. Das Wachstum war freilich schon vorher mau und ist es auch jetzt wieder. Auf Sicht der vergangenen fünf Jahre bleibt ein jährliches BIP-Plus von nicht einmal 0,3 %. Auf Sicht von sechs Jahren sind es jährlich 0,8 %.Aktuell am meisten ins Auge springt, dass auch der inzwischen wieder signifikant gestiegene Ölpreis keinen Schub für die Wirtschaft mehr bringt. Die neue, nach unten korrigierte BIP-Prognose des Wirtschaftsministeriums basiert nämlich auf der Annahme, dass der Ölpreis dieses Jahr im Schnitt 69,30 Dollar je Barrel beträgt, während in der vorherigen April-Prognose noch von einem Ölpreis bei lediglich 61,40 Dollar für das Fass ausgegangen worden war. Nach den Erwartungen wird der Preis in den Jahren 2022 bis 2024 auf 55 Dollar sinken. Ganz offenbar kann der Ölpreis Russland nicht mehr nach oben katapultieren. Das könnten nur Investitionen. Der neuen Prognose des Wirtschaftsministeriums zufolge aber ist dieses und nächstes Jahr mit deutlich weniger Investitionen zu rechnen als bisher angenommen.Die Prognostiker hatten bisher ganz einfach die Wirkung der US-Sanktionen unterschätzt. Dabei hänge gerade die Dynamik bei den Investitionen recht direkt mit der US-Sanktionspolitik zusammen, wie ein westlicher Wirtschaftsvertreter in Russland im Gespräch mit der Börsen-Zeitung sagt: “Immer wenn die USA neue Sanktionen verhängen, werden geplante Investitionen wieder auf Eis gelegt. Haben sich die Betreffenden an die Sanktionen gewöhnt, kramen sie ihre Investitionspläne wieder hervor – ehe das Spiel von Neuem beginnt.”Und so zwingt der Geldmangel zu unpopulären Maßnahmen. Zu ihnen gehört neben der Erhöhung des Renteneintrittsalters auch die Anhebung der Mehrwertsteuer von 18 % auf 20 %. Letztere soll für das Budget einen Gesamteffekt von zwei Bill. Rubel (27 Mrd. Euro) ergeben, erwarten Moskauer Beamte.Die Mehrwertsteuererhöhung ist denn aber auch hauptsächlich dafür verantwortlich, dass das Wirtschaftswachstum 2018 und 2019 so stark abbremsen wird wie vom Wirtschaftsministerium prophezeit. Dies jedenfalls erklärte eine Quelle aus den einschlägigen Ministerien gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax: “2019 wird hinsichtlich der Adaptierung an die veränderten Bedingungen nicht einfach”, sagte sie. Zentralbank gefangenDer Teufelskreis ist eröffnet: Die höhere Steuerlast verlangsamt die wirtschaftliche Aktivität und heizt die Inflation an. Das zwingt die Zentralbank, das Absenken des bei 7,25 % immer noch hohen Schlüsselzinssatzes auszusetzen – bereits auf ihrer vergangenen Sitzung hat sie ihn unangetastet gelassen und gleichzeitig mit Blick auf die Mehrwertsteuererhöhung die Inflationserwartungen nach oben geschraubt.Nach der Durststrecke der Rezession betritt Russland nun die Durststrecke der Anpassung an die neuen Realitäten.