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Der seltsame Tod Europas

The Strange Death of Europe. Immigration, Identity, Islam. Douglas Murray. Bloomsbury, London 2017, ISBN 978-1-4729-4224-1, 343 Seiten, 15,99 Pfund. Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 8.9.2020 Auf den ersten Blick könnte man glauben,...

Der seltsame Tod Europas

The Strange Death of Europe. Immigration, Identity, Islam. Douglas Murray. Bloomsbury, London 2017, ISBN 978-1-4729-4224-1, 343 Seiten, 15,99 Pfund. Von Andreas Hippin, LondonAuf den ersten Blick könnte man glauben, Oswald Spengler habe in Douglas Murray einen würdigen Nachfolger gefunden. Auch er beschwört den Untergang des Abendlandes, allerdings ist sein kulturpessimistischer Abgesang weitaus leichter zu lesen als Spenglers “Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte”. Dem Journalisten des konservativen “Spectator” geht es um die Zuwanderungspolitik der vergangenen Jahre. Er stellt die richtigen Fragen zu Angela Merkels “Wir schaffen das”: Wer sind eigentlich “wir”? Und was genau ist “das”?Murray zitiert zum Einstieg aus Stefan Zweigs Buch “Die Welt von Gestern”, das 1942 erstmals erschien: “Todgeweiht schien mir Europa durch seinen eigenen Wahn, Europa, unsere heilige Heimat, die Wiege und das Parthenon unserer abendländischen Zivilisation.” Die Europäer hätten das vom spanischen Philosophen Miguel de Unamuno beschriebene “tragische Lebensgefühl” verloren. Zweig und seine Generation hätten auf schmerzliche Weise erfahren, “dass alles, was man liebt, selbst die größten und zivilisiertesten Kulturen, von Menschen weggefegt werden können, die dessen nicht würdig waren”. Stattdessen bestimme der Glaube an den menschlichen Fortschritt das Denken, wenn “wir” nicht gerade von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen erschüttert würden. Murray war auf Lampedusa, auf Lesbos und an anderen Brennpunkten der Flüchtlingskrise. Er beschreibt, wie “Schutzsuchende” bei ihrer Ankunft in Deutschland nicht nur begrüßt, sondern geradezu gefeiert wurden. Schließlich seien diese Menschen nicht aus Deutschland, sondern nach Deutschland geflüchtet. Aber nicht nur die Deutschen kämpfen mit der Last ihrer Geschichte. In anderen Ländern Westeuropas und in den Vereinigten Staaten geißele man sich für die Kreuzzüge, den Kolonialismus oder die Sklaverei, die bis heute in vielen Ländern Alltag sei, wo man sich aber überhaupt nicht dafür schäme – ganz abgesehen davon, dass es auch vieler nichtweißer Helfershelfer bedurfte, um den Sklavenhandel so erfolgreich zu betreiben. Kreuzzüge & SchuldgefühleEiner seiner Kollegen habe in Ramallah gerade ein Interview mit Jassir Arafat geführt, als einer der Assistenten die Ankunft einer amerikanischen Delegation meldete, berichtet Murray. Auf die Frage, um was für Amerikaner es sich handele, habe Arafat geantwortet, es sei eine Gruppe, die in der Region herumreise, um sich für die Kreuzzüge zu entschuldigen. Danach seien er und sein Gast in Gelächter ausgebrochen. Beiden sei klar gewesen, wie wenig Amerika mit den Kriegen des 11. bis 13. Jahrhunderts zu tun hatte. Aber Arafat sei natürlich gerne dazu bereit gewesen, die Schuldgefühle der Delegierten zu seinem politischen Vorteil zu nutzen. Man müsse sich nicht wundern, wenn Zuwanderer eine Kultur der Scham und der Selbstzweifel nicht besonders attraktiv fänden. Sie hielten im Zweifelsfall lieber an ihren Werten fest, die den europäischen oft diametral entgegenstünden, etwa wenn es um die Gleichberechtigung der Frau, die Toleranz für andere sexuelle Orientierungen oder die für Gotteslästerung zu verabreichenden Strafen gehe.Murrays Kritik gilt dabei nicht den Zuwanderern, sondern den Europäern, die aus seiner Sicht nicht für ihre Werte einstehen – weder für die Freiheit der Kunst (Salman Rushdie) noch für die Meinungsfreiheit (Charlie Hebdo). Sein Buch bietet einen anderen Blick auf die Flüchtlingskrise, die “uns” noch viele Jahre in Atem halten wird.