Im InterviewVolker Wieland

„Derzeit ist ganz sicher die größere Gefahr, zu wenig zu tun, vor allem im Euroraum“

Der Geldpolitik-Experte und frühere Wirtschaftsweise Volker Wieland hat als Ökonom für die US-Notenbank Fed gearbeitet und die EZB beraten. Im Interview spricht er über die aktuelle Geldpolitik von EZB und Fed.

„Derzeit ist ganz sicher die größere Gefahr, zu wenig zu tun, vor allem im Euroraum“

Herr Professor Wieland, wie weit müssen die Leitzinsen im Euroraum noch steigen, um die Inflation von aktuell 7% in angemessener Zeit auf das Ziel von 2% zurückzuführen?

Die bisherigen Zinserhöhungen werden in jedem Fall bei weitem nicht ausreichen. Beim aktuell entscheidenden Einlagensatz werden wohl 4% bis 5% nötig sein, um die Inflation nachhaltig zu drücken. Zwar geht die Inflation zurück. Das liegt aber bisher vor allem an den fallenden Energie- und insbesondere Gaspreisen. Nimmt man die raus, liegt die Inflation sogar bei 7,5%. Rechnet man auch noch die Lebensmittelpreise heraus, sehen wir, dass die Kerninflation bei etwa 5,5% bestenfalls stagniert. Das zeigt, die Inflation hat sich verbreitert. Die kurzfristige reale Verzinsung ist so immer noch tief negativ. Gleichzeitig haben wir einen deutlichen Lohnauftrieb, da die Arbeitnehmer die Kaufkraftverluste verständlicherweise ausgleichen wollen. Das wird zu Zweit- und Drittrundeneffekten führen. 

Die EZB sitzt weiter auf einem Anleihebestand von rund 5 Bill. Euro – was die langfristigen Zinsen drückt. Konterkariert das nicht die Leitzinserhöhungen?

Ja, das wirkt in die entgegengesetzte Richtung.  Die hohe Bilanz wirkt eher inflationär. Entscheidend sind aber die Zinserhöhungen. Der Zinseffekt dominiert sicherlich.  Aber die EZB sollte das Tempo beim Bilanzabbau dennoch deutlich erhöhen. Nur so kann sie sich auch Spielraum für zukünftige Krisen verschaffen. Sie hält immer noch einen sehr hohen Anteil der öffentlichen Verschuldung auf ihrer Bilanz, zwischen 25% und 45% je nach Mitgliedstaat. Das ist der Situation nicht angemessen.  Die Mitgliedstaaten sollten sich wieder stärker über den Markt finanzieren.

Am Donnerstag hat die EZB entschieden, die Reinvestitionen im Zuge des Anleihekaufprogramms APP ganz einzustellen – was das monatliche Abbautempo von 15 Mrd. Euro auf rund 25 Mrd. Euro erhöht.

Es ist ein richtiger Schritt, die Reinvestitionen unter dem APP-Programm zu beenden. Besonders ambitioniert ist das jedoch noch nicht.  Die EZB sollte ebenso bald beginnen, die hohen Bestände, die sie unter dem Corona-Notfallkaufprogramm PEPP angehäuft hat, abzuschmelzen. Schließlich gibt es angesichts der hohen Inflation keinen guten Grund, weiterhin so viele Anleihen zu halten. Vor allem könnte und sollte sie jetzt schon damit beginnen, die Unternehmensanleihen und anderen privaten Wertpapiere zügig zu verkaufen.

In den USA hat die Fed nun eine Zinspause signalisiert. Hat sie bereits genug getan, um die Inflation wieder unter Kontrolle zu bringen, oder muss sie noch nachlegen?

Die Fed hat ihren Leitzins auf mehr als 5% erhöht.  Die Inflation insgesamt ist in den USA nicht ganz so hoch gestiegen wie im Euroraum und seit dem Höhepunkt im Juni 2022 bereits um 4 Prozentpunkte zurückgegangen. Die Fed kann also auf einen viel deutlicheren Fortschritt bei der Inflationsbekämpfung verweisen. Dagegen ist die Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel in den USA zwar seit September 2022 um 1 Prozentpunkt gefallen, sie ist aber noch ähnlich hoch wie im Euroraum. Die Fed rechnet vermutlich damit, dass die Bankenprobleme zu einer Einschränkung der Kreditvergabe führen und zum weiteren Rückgang der Kerninflation beitragen. Es ist aber zu früh, die Inflation als besiegt zu erklären und weitere Zinserhöhungen auszuschließen.

Viele Marktakteure spekulieren bereits auf baldige Zinssenkungen in den USA noch dieses Jahr. Ist das vorstellbar?

Das glaube ich eher nicht. Da müssten wir schon einen starken Rückgang der Kerninflation und der Wirtschaftsleistung zusammen sehen. Natürlich ist es vorstellbar, aber aus meiner Sicht nicht das wahrscheinlichste Szenario.

Ist es aus Ihrer Sicht derzeit die größere Gefahr, bei der Straffung der Geldpolitik zu viel tu tun oder zu wenig zu tun?

Derzeit ist ganz sicher die größere Gefahr, zu wenig zu tun, vor allem im Euroraum.

Mancher Ökonom argumentiert grundsätzlich, dass die Volkswirtschaften und das Finanzsystem nicht mehr in der Lage seien, mit höheren Zinsniveaus wie in der Vergangenheit klarzukommen. Wie beurteilen Sie das?

Die hohe Inflation hilft den Schuldnern, und dazu gehören die Mitgliedstaaten der Währungsunion. Relativ zur Verschuldung steigt die nominale Wirtschaftsleistung. Außerdem spült die Inflation zusätzliche Steuereinnahmen in die Kassen. Die Euro-Staaten sollten diesen Schwung jetzt nutzen und auf einen neuen Kurs mit fallenden Schuldenquoten einschwenken. Dazu passend sollten die EU-Fiskalregeln wieder aktiviert und nicht gelockert werden. Geschieht das nicht, werden die hoch verschuldeten Mitgliedstaaten in drei bis fünf Jahren mit stark steigenden Zinsausgaben konfrontiert sein. Was das Finanzsystem betrifft, ist es zu früh, Entwarnung zu geben. Natürlich haben viele Banken so ihre Schwierigkeiten mit dem sehr schnellen Zinsanstieg. Da sind substanzielle Zinsänderungsrisiken auf den Bilanzen. Für das Finanzsystem wäre es besser gewesen, früher mit der geldpolitischen Straffung zu beginnen und langsamer vorzugehen. Es hilft aber nicht weiter, deswegen jetzt auf die Inflationsbekämpfung zu verzichten. 

Im Interview: Volker Wieland

„Derzeit ist ganz sicher die größere Gefahr, zu wenig zu tun“

Der Geldpolitik-Experte über die Zinsentscheide von EZB und Fed, den weiteren geldpolitischen Kurs und die aufgeblähten Notenbankbilanzen

Seine Meinung in geldpolitischen ­Fragen ist nicht nur in Deutschland und im Euroraum, sondern weltweit gefragt: Volker Wieland

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

Der Geldpolitik-Experte und frühere Wirtschaftsweise Volker Wieland hat als Ökonom für die US-Notenbank Fed gearbeitet und die Europäische Zentralbank (EZB) beraten. Im Interview spricht der geschäftsführende Direktor des Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) in Frankfurt über die aktuelle Geldpolitik.