NOTIERT IN BRÜSSEL

Die Ausrufung der Europäischen Republik

Wer am morgigen Samstag in der City unterwegs sein sollte - egal ob in Frankfurt, Berlin, Köln, London, Brüssel, Wien, Warschau, Vilnius Prag oder Lissabon -, der wird vielleicht Zeuge eines ungewöhnlichen Schauspiels werden. Um Punkt 16 Uhr soll...

Die Ausrufung der Europäischen Republik

Wer am morgigen Samstag in der City unterwegs sein sollte – egal ob in Frankfurt, Berlin, Köln, London, Brüssel, Wien, Warschau, Vilnius Prag oder Lissabon -, der wird vielleicht Zeuge eines ungewöhnlichen Schauspiels werden. Um Punkt 16 Uhr soll nämlich die “Europäische Republik” ausgerufen werden – auf Theaterbalkonen, auf Stühlen, die auf einen öffentlichen Platz gestellt werden, in den Rathäusern. Nach letzten Informationen wollten sich mehr als 150 Theater, Organisationen und Initiativen an dieser (Kunst-)Aktion beteiligen. Alle wollen dann zur gleichen Zeit ein Manifest vorlesen, das es mittlerweile in fast 30 Sprachen gibt und in dem der Wunsch nach einer bislang nicht existierenden gemeinsamen europäischen Demokratie bekräftigt wird. *Ausgedacht haben sich dieses “European Balcony Project” die deutsche Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, der vor einem Jahr für seinen EU-Roman “Die Hauptstadt” den Deutschen Buchpreis erhalten hat, sowie der Schweizer Theatermacher Milo Rau. Seit Monaten laufen die Vorbereitungen, Spenden wurden über eine Crowdfunding-Aktion gesammelt. Es gibt natürlich die Balcony-Webseite und den passenden Hashtag. Das von den drei Machern gewählte Datum für das europaweite Projekt liegt nicht zufällig ziemlich genau 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dessen am Wochenende ebenfalls in zahlreichen Ländern gedacht wird, sowie 100 Jahre nach der Ausrufung der deutschen Republik am 9. November 1918 durch den SPD-Politiker Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags in Berlin. *In dem vorbereiteten Manifest, das in Ton und Stil an diese Ausrufung erinnern soll, heißt es, es sei an der Zeit, sich an die Gründungsidee des europäischen Einigungsprojekts zu erinnern. “Das Europa der Nationalstaaten ist gescheitert. Die Idee des europäischen Einigungsprojekts wurde verraten. Der Binnenmarkt und der Euro konnten ohne politisches Dach zur leichten Beute einer neoliberalen Agenda werden, die der Idee der sozialen Gerechtigkeit widerspricht. Daher muss die Macht in den europäischen Institutionen erobert werden.” Und dann wird der Europäische Rat für abgesetzt erklärt und das EU-Parlament dazu ermächtigt, eine europäische Regierung zu wählen. Das Ganze endet dann mit dem Ausruf: “Es lebe die Europäische Republik.” *Ob Guérot, Menasse und Rau bei einer Volksabstimmung über ihr Manifest eine Mehrheit erhalten würden, darf zwar bezweifelt werden. Sowohl die von ihnen geforderten offenen EU-Außengrenzen als auch die Abschaffung der Nationen verursachen dann doch eher Ängste als Begeisterung. Und eine weitere Vergemeinschaftung von Aufgaben liegt zurzeit in Europa ja alles andere als im Trend. Aber den drei Initiatoren gelingt es mit ihrer ungewöhnlichen künstlerisch-politischen Performance einschließlich von begleitenden Veranstaltungen doch noch einmal, ein halbes Jahr vor der richtungsweisenden Europawahl wichtige Fragen in der Öffentlichkeit zu platzieren: Welche EU wollen wir eigentlich? Mehr Europa? Weniger? Ein effektiveres? Eine reine Rückbesinnung auf den Binnenmarkt? Es sind die gleichen Fragen, die EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im vergangenen Jahr anlässlich des 60. EU-Geburtstags in seinem “Weißbuch” gestellt und dann auf Dutzenden Bürgerversammlungen in ganz Europa diskutiert hat. *Die Vision der Balcony-Macher lautet jetzt: “Wir wollen ein geeintes, dezentrales, demokratisches und bürgerzentriertes Europa.” Das Motto lautet: ein Markt, eine Währung, eine Demokratie. Ob es damit gelingt, tatsächlich eine breite neue Debatte über die EU zu beginnen, wird sich auch morgen in zahlreichen Innenstädten zeigen. Das Projekt erinnert aber 100 Jahre nach Weltkriegsende auf jeden Fall noch einmal daran, dass die EU in erster Linie auch ein Friedensprojekt ist.