NOTIERT IN ZÜRICH

Eidgenossen im Abstimmungsstress

Dass die direkte Demokratie kein "Free Lunch" ist, wissen in der Schweiz jede Stimmbürgerin und jeder Stimmbürger aus persönlicher Erfahrung. Viermal werden die Eidgenossen in diesem Jahr zur Urne gebeteten - im Februar, im Mai, im September und im...

Eidgenossen im Abstimmungsstress

Dass die direkte Demokratie kein “Free Lunch” ist, wissen in der Schweiz jede Stimmbürgerin und jeder Stimmbürger aus persönlicher Erfahrung. Viermal werden die Eidgenossen in diesem Jahr zur Urne gebeteten – im Februar, im Mai, im September und im November. Unterbrochen wird dieser intensive Rhythmus nur alle vier Jahre, wenn es jeweils im Herbst darum geht, das Parlament neu zu bestellen. Dann werden die Schweizerinnen und Schweizer im zweiten Halbjahr mit direktdemokratischen Sachgeschäften in Ruhe gelassen, damit sie sich ganz auf die Wahl ihrer politischen Vertreter konzentrieren können. Die kleine Pause bezahlen die Stimmenden im Folgejahr in aller Regel aber mit einem umso größeren Demokratie-Aufwand.Dieses Jahr werden allein auf eidgenössischer Ebene bis zu 16 Vorlagen zur Abstimmung kommen, wobei die definitive Festlegung der Agenda in der Kompetenz der Regierung (Bundesrat) liegt, welche die Abstimmungsvorlagen spätestens vier Monate vor dem Termin bekannt geben muss. Hinzu kommen an jedem dieser vier Abstimmungstermine zahlreiche Vorlagen auf Ebene der Kantone (Länder) und der Gemeinden.Das Abstimmungsjahr 2020 hat es in sich. Mindestens was die Menge der eidgenössischen Vorlagen anbelangt, dürfte es zum reichhaltigsten in diesem Jahrhundert werden. Für Aufmerksamkeit über die Schweizer Landesgrenzen hinweg sorgen immer wieder die Volksinitiativen. Das Instrument erlaubt es, ein Anliegen ohne Zutun des Parlamentes direkt in der Verfassung zu verankern, sofern sich dafür innerhalb von 18 Monaten 100 000 stimmberechtigte Befürworter finden, die ihre Unterstützung per Unterschrift bestätigen.Vier solche Initiativen stehen 2020 im Programm. Für Spannung sorgt die von der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierte “Begrenzungsinitiative”, welche die in den bilateralen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU verankerte Personenfreizügigkeit beenden will. Nach dem knappen “Ja” zur Initiative gegen die “Masseneinwanderung” vor sechs Jahren mobilisiert die wählerstärkste Partei des Landes erneut für mehr Selbstbestimmung. Spätestens nach dem Abstimmungssonntag vom 17. Mai wird sich der Bundesrat entscheiden müssen, ob er die Ratifizierung des überfälligen Rahmenabkommens doch noch vornehmen oder ein neues Abkommen anstreben will.Auch der Konzernverantwortungsinitiative wäre die Aufmerksamkeit im Ausland sicher, wenn sie am 27. September tatsächlich zur Abstimmung gelangen sollte. Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, die im Ausland Menschen- oder Umweltrecht verletzen, sollen von den Betroffenen vor Schweizer Gerichten auf Schadenersatz verklagt werden können, verlangt das von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen und anderen Bereichen der Zivilgesellschaft gestützte Initiativkomitee. Es ist nicht auszuschließen, dass sich das Parlament noch zu einem scharfen Gegenvorschlag durchringen wird, der die Initiatoren zum Rückzug ihrer Vorlage bewegt.Die Konzernverantwortungsinitiative zeigt die Wirkung dieses Instrumentes beispielhaft auf. Es kann bei ausreichenden Erfolgschancen das Parlament in Zugzwang bringen und so auch ohne Abstimmung einen indirekten Effekt entfalten. Dies relativiert auch die Statistik, nach der im historischen Durchschnitt nur jede 10. Volksinitiative an der Urne angenommen wird. Die Konzerninitiative ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie die Zivilgesellschaft Themen auf die politische Agenda setzen kann. Entsprechende Vorlagen gab es vor einigen Jahren in der Schweiz auch mit der Vollgeldinitiative oder mit der Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen.In früheren Jahren wurde die Initiative von den Regierungsparteien oft auch als Wahlkampfinstrument eingesetzt. Dieser Boom ist inzwischen aber abgeebbt. Dafür werden die Eidgenossen nun für Referenden an die Urne gerufen. 50 000 Unterschriften reichen aus, damit das Volk über ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz direkt entscheiden kann. Die direkte Demokratie ist fürwahr kein gutes Modell für politikfaule Bürgerinnen und Bürger – vielleicht bleibt deshalb jeweils rund die Hälfte der Bevölkerung der Urne fern.