NOTIERT IN WASHINGTON

Ein angeschossener Löwe

Am Samstag hatten führende Medienorganisationen den Demokraten Joe Biden zum Sieger der US-Präsidentschaftswahl erklärt. Eine Nation konnte aufatmen. Regierungschefs aus aller Welt beglückwünschten den "President elect", und Biden hielt eine...

Ein angeschossener Löwe

Am Samstag hatten führende Medienorganisationen den Demokraten Joe Biden zum Sieger der US-Präsidentschaftswahl erklärt. Eine Nation konnte aufatmen. Regierungschefs aus aller Welt beglückwünschten den “President elect”, und Biden hielt eine staatsmännische Siegerrede. Der amtierende Präsident Donald Trump hingegen tummelte sich auf dem Golfplatz und wollte seinem Nachfolger partout nicht gratulieren.Es folgten Tweets über eine angeblich gestohlene Wahl. Jedes erdenkliche Rechtsmittel werde er erschöpfen, um das Ergebnis anzufechten, wetterte der Präsident. Zunächst versuchte Schwiegersohn Jared Kushner, dann First Lady Melania, ihm ins Gewissen zu reden. Sie legten ihm nahe, das Handtuch zu werfen und sich einigermaßen mit Würde aus der Affäre zu ziehen. Es kam leise Hoffnung auf, Trump würde dem Rat seiner Familie folgen.Mitnichten. Der Wunsch nach einer glatten Amtsübergabe verflüchtigte sich schnell, und mittlerweile hat Trump klargemacht, dass er gar nicht daran denke, Bidens Sieg anzuerkennen. In sämtlichen Staaten, in denen er relativ knapp unterlag, hat er einer Armee von Anwälten den Marschbefehl gegeben, die ohne jegliche Beweise versuchen sollen, dort die Ergebnisse zu kippen.In Arizona etwa, weil einige Wahllokale den Wählern dunkle Filzstifte gegeben hatten, um den Stimmzettel auszufüllen. In Nevada sollen Tote ihr Votum für den Demokraten abgegeben haben. Und dann Pennsylvania, weil in dem vorwiegend afroamerikanischen Philadelphia doch immer gelogen und geschummelt werde, hieß es.Dass Nachzählungen am Ergebnis etwas ändern werden, ist höchst unwahrscheinlich. Auch sind die ersten Klagen abgeblitzt, und fast kein Rechtsexperte hält es für vorstellbar, dass der Oberste Gerichtshof sich der Vorträge der Trump-Advokaten überhaupt annehmen würde. Dennoch unterstützen führende Republikaner die Bemühungen des Präsidenten. Sie sind dringend auf seine 72,5 Millionen Wähler angewiesen, auf seine politische Basis also. Gerade mit Blick auf die im Januar anstehende Stichwahl in Georgia, die entscheiden wird, welche Partei im Senat die Mehrheit haben wird. Der Präsident lässt folglich nicht locker. Er wies sogar Emily Murphy, die Chefin der Bundesverwaltungsbehörde General Services Administration (GSA), an, Bidens Übergangsmannschaft sowohl die ihnen zustehenden Gelder als auch die Sicherheitskräfte zu verweigern, die während eines Regierungswechsels selbstverständlich sind.Zudem will das Weiße Haus dem neu gewählten Präsidenten Geheimdienstinformationen vorenthalten, die unter dem Gesichtspunkt der nationalen Sicherheit als unverzichtbar gelten. Trump wütet wie ein angeschossener Löwe. Er entließ dann noch seinen Verteidigungsminister Mark Esper, was das Vakuum an der Spitze des Sicherheitsapparats noch vergrößert.Nun hofft der Präsident, dass republikanisch regierte Landesparlamente, welche die Wahlmänner ihres Staates dem Electoral College zuleiten, sich dem Wählerauftrag widersetzen und für ihn stimmen, was allerdings so gut wie unmöglich erscheint. Wie grenzenlos der Egoismus ist, das beweist allein die Tatsache, dass Trump praktisch kein Wort mehr über die Coronavirus-Pandemie verliert, und das obwohl die Neuinfektionen Rekordstände erreichen. Er erwähnte nur kurz den vielversprechenden neuen Impfstoff, der natürlich allein sein Verdienst sei.Jener Schaden, den der Präsident in den kommenden 68 Tagen noch anrichten kann, ist groß. Sicher scheint, dass er seine ganze Familie vorbeugend begnadigen wird, was mit gewissen Einschränkungen sogar möglich ist. Nicht entbinden kann er sich aber selbst von einer Anklage der Staatsanwaltschaft in New York, von der es heißt, dass diese über eine Fülle an Beweisen für diverse Finanzverbrechen verfügt, um den Privatbürger Donald Trump vor Gericht zu stellen. Kein Wunder, dass Gerüchte kursieren, denen zufolge sich der Präsident am 20. Januar womöglich sogar im Weißen Haus verbarrikadieren will, um zu verhindern, dass im Trump Tower plötzlich das FBI vor der Tür steht und ihm Handschellen anlegen will.