InterviewFelix Dinnessen

„Ein Flickenteppich von Lösungen, Zuständigkeiten und Begrifflichkeiten“

Der Deloitte-Spezialist für den öffentlichen Sektor hält den Erfolg des Infrastrukturprogramms der Bundesregierung wegen der dysfunktionalen staatlichen Strukturen für gefährdet.

„Ein Flickenteppich von Lösungen, Zuständigkeiten und Begrifflichkeiten“

Im Interview: Felix Dinnessen

„Flickenteppich von Lösungen und Zuständigkeiten“

Der Deloitte-Spezialist für den öffentlichen Sektor fordert eine Neuordnung der über Jahre gewachsenen staatlichen Strukturen

Mangelnde Digitalisierung, ein Zuständigkeits- und Verantwortungswirrwarr zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Einzelinteressen mit Blockadekompetenzen für Veränderungen. Wer den Staat wieder handlungsfähig machen will, muss eine große Staatsreform ins Visier nehmen, sagt Felix Dinnessen.

Herr Dinnessen, die Deloitte-Umfrage ist in meinen Augen ein deutliches Misstrauensvotum der Bürger und der Wirtschaft im Hinblick auf die staatliche Handlungs- und Reformfähigkeit. Vor dem Hintergrund der jüngsten Investitionsanstrengungen im Rahmen des Sondervermögens: Wie groß ist die Gefahr, dass die Umsetzung auch hier an der Verwaltung scheitert oder verzögert wird?

Unsere Studie zeigt: Die große Mehrheit der Befragten sieht die Bürokratie als wesentlichen Hemmschuh für einen leistungsfähigen Staat. Mit Blick auf bedeutsame Vorhaben wie das Sondervermögen besteht die Gefahr, dass solche Investitionen ohne Strukturreformen ihr volles Potenzial gar nicht entfalten können. Eine moderne Verwaltung kann jedoch eine wichtige Stütze des Staates sein. Eine durchgängige Digitalisierung hilft etwa, Bürokratie abzubauen, Entscheidungen zu beschleunigen und Verwaltungsprozesse zu vereinfachen. So würden alle von unnötigem Aufwand befreit – die Bürger, die Unternehmen und auch die Verwaltung selbst.

Viele Regelungen sind teils widersprüchlich, zu detailliert und praxisfern.

Welche Entwicklungen haben eigentlich dazu geführt, dass Staat und Verwaltung immer handlungsunfähiger geworden sind?

Die Ursachen sind vielschichtig und über Jahrzehnte gewachsen. Die Zuständigkeiten und die damit verbundene Finanzierungsverantwortung wurden dabei immer unklarer. Notwendige, grundlegende Reformen sollten daher dringend nachgeholt werden. Denn unser Staatswesen ist dabei immer komplexer geworden. Viele Regelungen sind teils widersprüchlich, zu detailliert und praxisfern. Handlungsfähiger wird der Staat, indem wir konsolidieren, Vorschriften vereinheitlichen und Prozesse automatisieren. In jüngster Zeit haben etwa mehr Bundesländer zentrale Ausländerbehörden eingerichtet, in denen alle Fragen rund um die Erwerbsmigration gebündelt werden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Felix Dinnessen ist Partner beim Unternehmensberater und Wirtschaftsprüfer Deloitte und Leiter des Geschäftsfelds zur Beratung des Öffentlichen Sektors.
Deloitte

Selbst bei der eigenen Modernisierung kommt der Staat ja nicht voran, etwa mit Blick auf die Digitalisierung der Verwaltung, wie Ihre Umfrage zeigt. Braucht es erst eine Staatsreform, um das Dickicht an Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Länder und Kommunen zu lichten und zu entflechten?

Die Ergebnisse unserer Studie weisen eindeutig darauf hin. Die Digitalisierung der Verwaltung wird nicht nur durch technologische Herausforderungen erschwert, sondern auch durch über die Jahre gewachsene Strukturen. Diese müssen wir reformieren. Wir sehen etwa fragmentierte Zuständigkeiten und fehlende technische Standards. Und auch im Föderalismus könnten wir stärker mit einheitlichen Lösungen arbeiten. Politik und Gesellschaft haben das Problem erkannt und verschiedene Initiativen gestartet. Ein Beispiel ist die Sozialstaatsreformkommission der Bundesregierung. Sie soll Anfang nächsten Jahres Handlungsempfehlungen vorlegen.

Eine der Herausforderungen ist die Orientierung an Wahlperioden.

Ihre Studie kritisiert die hohe Regulierungsdichte. Diese hat nach der Finanzkrise gerade im Finanzsektor besonders stark zugenommen. Genügen einfache Regeln nicht mehr? Und warum braucht es immer detailliertere Gesetze und Vorschriften von mehreren Ebenen wie Brüssel, Berlin und Landeshauptstädte?

Die hohe Regulierungsdichte ist etwa Ausdruck des Wunsches, Einzelfälle detailliert zu regeln. Wenn aber Regelungen immer komplexer werden, können sie in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Problematisch wird dies, wenn neue Gesetze implementiert oder bestehende novelliert werden, ohne mögliche Auswirkungen in anderen Politikbereichen abzuwägen. Es entsteht ein Flickenteppich von Lösungen, Zuständigkeiten und Begrifflichkeiten. Und das hilft weder den Bürgern noch den Unternehmen noch der Verwaltung.  

Die Studienergebnisse raten der Politik, die Gesetze stets auf Vollzugstauglichkeit zu prüfen, die Zuständigkeiten bei Sozialleistungen zu bündeln und insgesamt mehr Pauschalierungen statt das Streben nach Einzelfallgerechtigkeit. Vieles ist ja offensichtlich. Was hindert Berlin an der Umsetzung?

Eine der Herausforderungen ist die Orientierung an Wahlperioden. Hinzu kommen die verschiedenen, geopolitischen Spannungen und Krisen unserer Zeit. Angesichts dessen können einzelne, kurz angelegte Maßnahmen keine nachhaltigen Erfolge sichern, sondern nur punktuell wirken. Es braucht einen überlegten Reformprozess, der sich über mehrere Wahlperioden erstreckt. 

Wie sortieren Sie hier die jüngsten Koalitionsbeschlüsse zur Entbürokratisierung ein?

Die gerade beschlossene Modernisierungsagenda der Bundesregierung ist der Startschuss. Sie greift die richtigen Themen auf und beinhaltet sehr konkrete Maßnahmen, die etwa zu besseren Gesetzen und zu einem Rückbau von Komplexität führen sollen. Zuversichtlich macht mich auch, dass Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz als wirkungsvolle Unterstützung für die Verwaltung angesehen werden.

Das Interview führte Stephan Lorz.


Bericht zur Deloitte-Umfragestudie