Feiern unter Blüten und zum Vergessen
Sein ganzes Politikerleben lang träumt Shinzo Abe davon, die Verfassung zu reformieren, weil sie seiner Meinung nach von der US-Besatzungsmacht stammt und Japans nationale Souveränität einschränkt. Im ersten Anlauf ab 2006 ging der damalige Regierungschef die Aufgabe frontal an, scheiterte und trat nach einem Jahr zurück. Beim zweiten Versuch ab Ende 2012 konzentrierte sich seine Regierung dann voll auf die Wirtschaft, obwohl Abe immer wieder von der Verfassung redete. Erst in diesem Herbst diskutierte das Parlament endlich seinen Plan, die Pazifismus-Klausel in Artikel 9 an die Wirklichkeit anzupassen. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt erhob die Opposition den Vorwurf, Abe habe die jährliche Kirschblütenparty der Regierung für parteipolitische Zwecke missbraucht.850 Anhänger der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Abe seit sieben Jahren führt, kamen zu dem Massenempfang unter den berühmten Kirschbäumen im ehemaligen Kaisergarten in Shinjuku. Zuvor nahmen sie an einem Hotelempfang teil. Nach anfänglichem Leugnen gab der Premier zu, er und seine Frau Akie hätten die Gästeliste für die Blütenparty mit mehr als 18 000 Besuchern persönlich beeinflusst. Jedoch weigerte er sich, die Namen der ausgewählten Besucher zu nennen. Welch ein “Glück”, dass das Kabinettsbüro die Gästeliste schon vernichtet hatte. An dem riesigen Schredder habe ein Behinderter gearbeitet, begründete Abe politisch unkorrekt den seltsamen Vorgang. Dennoch sagte seine Regierung die nächste Blütenparty im Frühjahr 2020 ab – die erste Unterbrechung seit 70 Jahren – und sparte dabei 475 000 Euro Steuergelder ein.Doch die Schadensbegrenzung funktionierte nicht: In Umfragen sanken die Zustimmungswerte für den Premier. Deswegen sah sich Abe jetzt gezwungen, die Verfassungsreform ins nächste Jahr zu verschieben. Am Montag beteuerte der Politiker zum Abschluss der Parlamentsperiode, die Debatte werde weitergehen. Eine neue Verfassung gehöre zu den Gründungsprinzipien der LDP. Finanzminister Taro Aso und Parteigeneralsekretär Toshihiro Nikai stellten klar, das Projekt müsse unter der Führung von Abe umgesetzt werden. Notfalls sollte der inzwischen 65-Jährige über das Ende seiner Amtszeit im Sommer 2021 hinaus weiterregieren. *Außer mit der möglichen Korruption durch Kirschblüten sind die Japaner in diesen Wochen mit einer anderen Party-Tradition beschäftigt: In den Unternehmen blicken Vorgesetzte und Mitarbeiter bei ihren Jahresendfeiern gemeinsam auf die vergangenen zwölf Monate zurück, um sie auf diese Weise abzuhaken. Dieses japanische Pendant zur deutschen Weihnachtsfeier heißt Bonenkai – wörtlich übersetzt “Feier zum Vergessen des Jahres” – und spielt sich meistens innerhalb der eigenen Abteilung im Unternehmen ab. Aber man feiert auch mit externen Händlern und Kunden. Die Presseabteilungen einiger Konzerne laden zum Beispiel die Journalisten ein, mit denen sie öfter Kontakt haben.Die schöne Idee, eine Party zur Katharsis zu benutzen und dadurch mögliche Risse im Team wieder zu kitten, stößt aber nicht bei allen Beteiligten auf Gegenliebe. Viele Angestellte betrachten die Feiern als lästige Pflicht und wollen ihre geringe Freizeit nicht mit Kollegen und Chefs verbringen. Zwar ist die Teilnahme nicht verpflichtend, aber das Interesse der Gruppe steht in Japan immer über dem Interesse des Einzelnen, deswegen schert niemand aus. Doch vor allem jüngere Japaner halten laut einer Umfrage des Uhrenherstellers Citizen wenig von der langjährigen Feiertradition. Diese Generation von “Salarymen”, so der japanische Ausdruck für Angestellte, wollen anders als ihre Firmenkrieger-Eltern ihre Lebenszeit nicht mehr für den Arbeitgeber opfern.Diese Gemengelage erzeugt in diesem Jahr einen Trend weg vom abendlichen Ess- und Trinkgelage hin zu einem mittäglichen Lunch-Bonenkai mit alkoholfreien Getränken. Statt im Restaurant zu sitzen, lassen sich die Teams das Essen an den Arbeitsplatz liefern. Darüber freuen sich besonders berufstätige Mütter, die für eine Abendparty keine Zeit hätten. Japans Arbeitswelt wird offenbar immer familienfreundlicher.