NOTIERT IN TOKIO

Geduld statt Gold

Die vier nationalen Feiertage zwischen dem 29. April und 6. Mai feiern die Japaner als "Golden Week", so die japanischen Lehnworte aus dem Englischen. Entweder haben die Arbeitnehmer diese acht Tage komplett frei, weil viele Unternehmen ihre Büros...

Geduld statt Gold

Die vier nationalen Feiertage zwischen dem 29. April und 6. Mai feiern die Japaner als “Golden Week”, so die japanischen Lehnworte aus dem Englischen. Entweder haben die Arbeitnehmer diese acht Tage komplett frei, weil viele Unternehmen ihre Büros und Fabriken schließen. Oder man nimmt ein, zwei Urlaubstage und braucht dann mehr als eine Woche nicht mehr zu arbeiten. Millionen Japaner verreisen in einen Kurzurlaub, zumal das Wetter zu dieser Zeit gewöhnlich sonnig und warm ist.Doch in diesem Jahr hat die Regierung wegen des Coronavirus den nationalen Notstand ausgerufen. Die Menschen sollen zu Hause bleiben und ihre Kontakte zu anderen verringern. Der Gouverneur von Okinawa, Denny Tamaki, zum Beispiel verlangte von den 60 000 Japanern, die während der Goldenen Woche die südliche Hauptinsel besuchen wollen, dass sie ihre Flugbuchungen stornieren. Okinawa sei nicht in der Lage, Besucher zu empfangen, flehte Tamaki. Darauf sackte die Zahl der Buchungen auf 15 000. Andere Politiker forderten die Menschen zur “Selbstkontrolle” auf, eine in Japan hochgeschätzte Tugend.Angesichts dieser Lage haben die Japaner die “Golden Week” in diesem Jahr in “Gaman Week” umgetauft. Gaman gilt hier ebenfalls als wichtige soziale Fähigkeit, nämlich stillschweigend zu ertragen, was eigentlich nicht auszuhalten ist. Diese Art von Geduld üben die Japaner von früher Kindheit ein. Bei einer Naturkatastrophe oder jetzt während der Pandemie erweist sich der Gaman-Geist als praktisch, weil bis zur Rückkehr zur Normalität niemand die Nerven verliert. Allerdings scheint diese Geduld derzeit ziemlich begrenzt zu sein. Laut den Bewegungsdaten ihrer Mobiltelefone sind die Japaner trotz Notstandes weiter viel unterwegs. Eine beliebte Erklärung lautet, dass viele Ehepaare es zu Hause nicht miteinander aushalten. In normalen Zeiten verlassen die Männer frühmorgens die Wohnung und kommen erst spätabends zurück. Neuerdings arbeiten sie zu Hause oder sitzen dort gelangweilt herum. Für diese Situation bietet das Start-up Kasoku nun möblierte Apartments zur tageweisen Miete an, damit die Ehepartner sich nicht mehr zu Hause auf die Nerven gehen. Auf Wunsch erhalten die Mieter eine kostenlose Scheidungsberatung dazu. *Die traditionelle Duldsamkeit der Bevölkerung hat die negative Kehrseite, dass sie längst notwendige Veränderungen bremst. Zum Beispiel diskutiert Japan seit Jahren darüber, das Schul- und Universitätsjahr wie international üblich nach dem Sommer beginnen zu lassen. Der derzeitige Starttermin im April erschwert es japanischen Studenten, ein Auslandsjahr einzulegen. Umgekehrt haben auch ausländische Gaststudenten Probleme. Die Pandemie böte eine Chance, auf einen Schlag zum globalen Bildungsrhythmus zu wechseln. Denn die meisten Schulen haben im soeben begonnenen Schuljahr ihren Betrieb noch gar nicht aufgenommen. Nur 5 % bieten Online-Unterricht an, weil fast überall die technischen Voraussetzungen fehlen. Auch wird Fernunterricht nicht als vollwertige Alternative anerkannt. Die Teilnehmer erhalten dafür nur die Hälfte der Leistungspunkte und müssen ergänzenden Präsenzunterricht nachweisen.Zugleich haben viele Privatschulen geöffnet und verschaffen ihren Schülern dadurch einen Vorteil bei den Aufnahmeprüfungen für die Universitäten Anfang 2021. Würde man den Beginn des Schuljahres – zusammen mit den Prüfungen – jeweils um ein halbes Jahr verschieben, hätten alle wieder die gleichen Startbedingungen. Und geschafft wäre zudem die lange diskutierte Umstellung auf das internationale System! Ein Drittel der Gouverneure plädiert bereits dafür. Widerstand kommt von der starren Ministerialbürokratie, die sich so langsam wie ein Gletscher vor dem Klimawandel bewegt. Auch eine emotionale Komponente spricht gegen eine Änderung. Die Japaner richten ihr Leben stärker als die Menschen in anderen Nationen nach den Jahreszeiten aus. Seit 1868 verbinden sie den Frühling mit der Kirschblüte und dem Beginn des Geschäfts- und Schuljahres. Ein Start im September, wenn in feuchter Hitze die Zikaden singen, nähme diesen Anfängen ihren Zauber.